Zwischen Neckar und Alb
Der Dichter als Revolutionär?

Kultur In Nürtingen wird am 30. September das Rock-Musical „Hölder“ gezeigt. Im Mittelpunkt steht eine Frage: Wie aktuell ist das Denken Hölderlins? Von Andreas Warausch

Wer würde bei einem Werk mit dem Titel „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ auf Anhieb auf ungebrochene Aktualität wetten? Und wer würde das tun, wenn er wüsste, dass ausgerechnet Friedrich Hölderlin mit von der Partie war? Jener untrennbar mit Nürtingen verbundene Dichter, dessen Werk manchem als sperrig gilt?

Es gibt da jemanden, der sich ranwagte. Götz Schwarzkopf ist Autor und Komponist des Musicals „Hölder“. Zum 250. Geburtstag des Dichters brachte er mit einer rund 30-köpfigen Darstellerschar, die vor allem aus Laien besteht, und einer insgesamt 50 Menschen umfassenden Crew das Rock-Musical „Hölder“ auf die Bühne. In Nürtingen werden die Bands Hölders Welt und Semikolon, eben die Hölder-Musical-Crew, das Tanz-Ensemble LaPassion und der Chor der Jungen Akademie Stuttgart das Musical mit röhrenden Gitarren und eingängigen Melodien auf die Bühne bringen.

Ein modernes Musical über Hölderlin, wie kam er denn auf diese Idee? Klaus-Peter Waldenberger, der umtriebige Bürgermeis­ter von Hölderlins Geburtsstadt Lauffen, war es, der Schwarzkopf mit der Frage konfrontierte, ob so ein Hölderlin-Musical möglich sei. „Zuerst war es noch eine abstrakte Idee“, blickt Schwarzkopf zurück. Mit dem Komponieren legte er dann 2016 los. In enger Absprache mit seiner Band und mit den Lauffenern, die das Projekt initiierten. Eine Kooperation mit Schulen sollte es sein.

Thematisch, räumt Schwarzkopf ein, hat er sich schon länger mit Hölderlin beschäftigt. Doch wie vereinbart man Hölderlin mit dem Musical-Ansatz thematisch? „Es gibt so viele Hölderlin-Experten“, sagt Schwarzkopf. Wie sollte man sich da positionieren? „Wir brauchten ein anderes Thema, das noch nie bespielt wurde“, schildert er den gefundenen Ansatz. Also geriet Hölderlins Zeit mit den damals noch jungen Denkern Hegel und Schelling in Tübingen in den Fokus. Die drei Philosophenfreunde ersinnen im Jahr 1793 ihre Ethik, überlegen, wie die Menschen ein besseres Leben hinkriegen – während in Frankreich schon die Revolution herrscht. Später wird das Blatt, das die Freunde im Musical zusammen schreiben, als „Systemprogramm des deutschen Idealismus“ in die deutsche Geistesgeschichte eingehen.

Erster Kontakt mit Hölderlin

Kooperiert wurde mit dem Lauffener Gymnasium. Das Ziel: jungen Menschen Hölderlin näherbringen. „Das Thema passt zur heutigen Jugend“, sagt Schwarzkopf. „Fridays for Future“ lasse grüßen. Auch hier regt sich der leidenschaftliche Wunsch, gegen überkommenes Handeln der Alten aufzubegehren und besser mit der Natur im Einklang zu leben.

Die jungen Akteure sollten sich einbringen, sollten nicht einfach ein fertiges Script abspielen. Nicht jeder der jungen Menschen war (gleich) Feuer und Flamme. Aber viele bekamen mit der Zeit Zugang. Das Live-Erlebnis mit Kos­tümen, Bühne und allem Drumherum sorgte dann für den finalen Aha-Effekt. Bei den Darstellern – aber auch bei den Zuschauern.

Und worin besteht dieser Aha-Effekt? Die Wirkkraft der Poesie, die Absicht des intellektuellen Trios von 1793 trat hervor, berichtet Schwarzkopf. Das Musical changiert zwischen Szenen mit Hölderlin & Co. und Szenen mit einer heutigen Schulklasse, die sich mit dem vom Philosophentrio entworfenen Menschen- und Gesellschaftsbild auseinandersetzen soll. Weitere Zutaten: ein kapitalistischer Immobilienmogul im Heute, ein absolutistischer Herzog im Damals. Dazwischen die jungen Menschen und die Frage, wie man leben soll. Angesichts von Krieg und Umweltzerstörung. Da sorgen „Fridays for Future“ genauso für aktuelle Parallelen wie der Krieg in der Ukraine.

Der Kontext, so Schwarzkopf, ändert sich, auch in den vergangenen zwei Jahren. So können sich auch die jungen Menschen im Dichter finden. War er wirklich Revolutionär? Oder schwärmte er nur für die Veränderungen jenseits des Rheins – und wendete sich von der Gewalt und brutalen Machtausübung angewidert ab? Wie kann man Zustände verändern, ohne sich diese Bewegung entgleiten zu lassen? Welche gesellschaftliche Idee braucht es für diese Herkulesaufgabe? Damals wie heute ein Thema, vielleicht sogar das Thema.

Die Demonstrationen von „Fridays for Future“ zeigen laut Schwarzkopf die aktuelle Frage: „Was tun wir eigentlich hier?“ Mit unserem Planeten. Mit unseren Ressourcen. Mit uns. Und was sollten wir eigentlich tun? Das ist es, was sich Hölderlin und seine Freunde damals schon fragten. Herzöge, Turbokapitalisten – und heute auch noch Putin, Trump & Co.: Im Wandel des Scheins liegt die Beständigkeit des Seins. Schwarzkopf: „Es ist enorm beeindruckend und schockierend, wie nah wir dran sind.“ Da ist sie wieder, die Aktualität: Tugend guter Dichtung, guten Denkens, guter Inszenierung – fernab aller Klischees.

Das Rock-Musical „Hölder“ ist am Freitag, 30. September, 19.30 Uhr, im Nürtinger K3N zu sehen. Karten gibt es unter der Nummer 0 70 22/9 46 41 50

Hintergründe zum Fragment

Das Fragment mit dem Titel „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ ist auf einem Einzelblatt in der Handschrift Georg Friedrich Wilhelm Hegels überliefert. Inhaltlich und stilistisch wird es aber eher Schelling oder Hölderlin zugeschrieben. Während ihrer Studien­zeit in Tübingen in den 90er-Jahren des 18. Jahrhunderts waren die drei gute Freunde. Die Frage der Urheberschaft ist letztlich nicht geklärt.

Die Wissenschaft weist dem Fragment große Bedeutung für das Verständnis der Ursprünge der Philosophie des Deutschen Idealismus zu. Der Text geht von einem schöpferischen Ich als selbstbewusstes Wesen aus, das der Natur als schöpferischer Geist entgegentritt. Der freie Mensch fordere das Verschwinden des Staates, da dieser den Menschen zum Teil eines mechanischen Räderwerks macht und das Ich ein absolutes freies Wesen ist. Alle Ideen seien diesen höheren Ideen untergeordnet, die Idee der Schönheit wiederum vereinigt alle diese Ideen. Die Folge: Ohne ästhetischen Sinn gibt es keine Philosophie, am Ende überlebt ausschließlich die Dichtkunst. Eine neue Mythologie müsse diese Ideen ästhetisch und damit mythologisch machen, damit sie für das Volk Bedeutung haben können. aw