Zwischen Neckar und Alb

„Die EU ist wirklich in Gefahr“

Ministerpräsident Kretschmann betrachtet beim Neujahrsempfang das Land im globalen Zusammenhang

Im Angesicht der bevorstehenden Landtagswahl weckte der Neujahrsempfang des Grünen-Kreisverbandes Esslingen im K3N besonders großes Interesse. Vor voll besetztem Saal hielt der Nürtinger Landtagskandidat und Ministerpräsident Winfried Kretschmann eine Rede, mit der er sich kaum in die Niederungen eines Wahlkampfes begab.

„Ein zerfallendes Europa wäre eine epochale Katastrophe“, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann beim Neujahrsempfang der K
„Ein zerfallendes Europa wäre eine epochale Katastrophe“, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann beim Neujahrsempfang der Kreisgrünen in Nürtingen. Foto: Jürgen Holzwarth

Nürtingen. Kretschmann nahm eine Stunde lang in freier Rede die Zuhörer mit auf eine Reise, die rund um die Welt und wieder zurück ins Ländle führte. Erst kürzlich kam er aus Brüssel zurück. In den Gesprächen mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und Abgeordneten über die Flüchtlingskrise ist der Wahlkampf komplett in den Hintergrund geraten. Die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel findet durchaus Kretschmanns Zustimmung, während sich die Landes-CDU vorsichtig von der Kanzlerin absetzt.

In der Flüchtlingskrise gibt es laut Kretschmann keine schnellen, einfachen Lösungen. Eine Schließung der Grenzen im Schengen-Raum würde die Wirtschaft ausbremsen, den Warenfluss stocken lassen und die Zuwanderung nur verlangsamen. Wichtiger wäre, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu bekämpfen, zum Beispiel durch bessere finanzielle Ausstattung der riesigen Flüchtlingslager im Libanon, in Jordanien und der Türkei. Aber auch die Sicherung der Außengrenzen. Eine gemeinsame europäische Aufgabe.

Hinter der Flüchtlingskrise liegt jedoch eine weitere, die bewältigt werden muss: eine Krise Europas, die sich zeigt in einer wachsenden Entsolidarisierung, begleitet von Wahlerfolgen rechtspopulistischer Parteien. Eine Million Flüchtlinge auf 500 Millionen Europäer ist machbar, tragen Deutschland und Schweden die Last alleine, wird es schwierig: „Diese Haltung, nur zu nehmen und nichts zu geben, ist gefährlich. Die EU ist wirklich in Gefahr.“

Deutschland mit seinen kompromissfähigen Parteien kommt hier eine Führungsrolle zu, die die Kanzlerin in Kretschmanns Augen gut wahrnimmt: „Ich bete jeden Tag für die Gesundheit der Kanzlerin, dass sie das alles schafft.“ Ein zerfallendes Europa wäre eine epochale Katastrophe. Warum, sagte Kretschmann, wurde ihm bei einem Besuch im kalifornischen Silicon Valley klar: Unter den 20 größten IT-Firmen findet sich nur eine aus Europa – SAP aus Walldorf.

Änhliche Erfahrungen machte Kretschmann in China, wo nicht mehr nur kopiert, sondern emsig an der Industrie 4.0, der intelligenten Fabrik gearbeitet wird. Die schiere Größe des chinesischen Marktes ermöglicht den schnellen Einstieg in die Massenproduktion. „Was erreichen 28 einzelne europäische Staaten da? Gar nichts“, unterstrich er die Wichtigkeit des Zusammenhalts in der Europäischen Union. „Wenn man das alles versteht, versteht man Merkels Flüchtlingspolitik“, so Kretschmann. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz gab ihm folgenden Satz mit: „Deutschland darf nicht die Nerven verlieren.“

Grund zur Panik gibt es aus Kretschmanns Sicht auch nicht. Alle Flüchtlinge sind bis jetzt gut untergekommen, keiner blieb auf der Straße. Probleme sieht Kretschmann in den langen Asylverfahren, wo es am Personal fehlt. Andere Parteien, so der Ministerpräsident, sollten keine Vorschläge in die Welt setzen, die sich nicht umsetzen lassen: „Alles, was angekündigt und nicht gemacht wird, landet bei der AfD.“

Gemacht werden muss vieles: Integration in den Wohnungsmarkt, Integration in das Bildungswesen und den Arbeitsmarkt und Integration in Gesellschaft und Rechtsordnung. Hier zeigte Kretschmann klare Kante: „Wer so etwas macht, wie am Kölner Hauptbahnhof zu Silvester, ist in meinen Augen kein Flüchtling und hat das Bleiberecht verwirkt.“ In keinem Staat der Welt ist es erlaubt, Frauen zu begrapschen, wer es tut, ist sich seines Unrechts bewusst und muss die ganze Härte des Gesetzes in einer wehrhaften Demokratie zu spüren bekommen, so der Ministerpräsident.

Baden-Württemberg steht auf drei Säulen. Die erste ist Industrie und Erfindergeist als Sicherung des Wohlstandes, die zweite die starken Kommunen und die dritte das Ehrenamt. So lange es das bürgerschaftliche Engagement gibt, lassen sich alle Herausforderungen meistern, schloss der Ministerpräsident seine Rede, für die er viel Applaus bekam.

Zuvor hatten die beiden anderen Landtagsabgeordneten aus dem Kreis Esslingen, Andrea Lindlohr (Esslingen) und Andreas Schwarz (Kirchheim) in einer kurzen Talkrunde über ihre Arbeit und ihre Schwerpunkte berichtet. Linlohr ist wirtschaftpolitische Sprecherin und stellvertretende Fraktionsvorsitzende. Für sie eröffnet die Digitalisierung viele Chancen für einen ökologischen Umbau der Wirtschaft. Schwarz ist ebenfalls stellvertretender Fraktionsvorsitzender und kommunalpolitischer Sprecher. Infrastruktur, Mobilität und Verkehr sind seine Schwerpunktthemen. Dabei setzt er auf ökologische Mobilität statt auf weiteren Ausbau der Autobahnen.

„Ein zerfallendes Europa wäre eine epochale Katastrophe“, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann beim Neujahrsempfang der Kreisgrünen in Nürtingen. Foto: Jürgen Holzwarth