Mit Pfarrer Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, hatte sich der SPD-Kreisverband Esslingen einen nachdenklichen und grundlegenden Redner in die Köngener Eintrachthalle geholt. Warum haben nationalistische Populisten solche Erfolge, was ist zu tun? Zuhören, so eine Antwort von Ulrich Lilie, und die Fragen hinter den einfachen Antworten suchen.
Er verwies zu Beginn auf das neue Buch von Francis Fukuyama, „Identity“. Der Autor führe aus, die Zahl der Menschen, die Wut über Erniedrigung äußern, nehme zu. Die Themen Würde und Erniedrigung zögen sich als roter Faden durch das ganze Buch. „Etwa 30 Prozent der Gesellschaft bestimmen die Diskurse, sagen was cool ist, der Rest kommt gar nicht mehr vor. Viele fühlen sich schlicht von der Politik alleine gelassen. Diese Entfremdungsprozesse dürfen uns, ob in SPD oder Kirche, nicht egal sein.“
Die politische Linke zerfalle in zu viele kleine Gruppen und Einzelthemen, die populistische Rechte dagegen biete die rückwärtsgewandte „große vereinnahmende Erzählung des Nationalismus“. „Was, wenn wir die Vereinfacher nicht allein als Gegner, sondern als unfreiwillige Hinweisgeber sehen? Was, wenn sie uns helfen könnten, die zukunftsweisenden Fragen zu stellen und endlich bessere Antworten zu finden? So wie damals bei Sokrates in den Straßen der Stadt?“, fragte er. Viele erlebten die rasanten Veränderungen als Verunsicherung und Krise, erlebten in ihrer eigenen Nachbarschaft die jahrzehntelangen Versäumnisse der Integrations- und Wohnungsbaupolitik und die Härten von Hartz IV. „Sie können die Vorteile von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft für sich nicht mehr so recht entdecken. Auch unter dem Dach der Diakonie begegnen mir Klienten und Mitarbeiter, die den Männern und Frauen da oben nicht mehr furchtbar viel zutrauen.“
Ulrich Lilie sieht mindestens vier großen Herausforderungen: „In weniger als einer Generation ist Deutschland so bunt wie heute schon Frankreich, die Niederlande und England, die eine klassische Kolonialgeschichte haben und sich schon länger als Einwanderungsland verstehen.“ Diese Veränderung brauche politische Gestaltung und eine Organisation von Teilhabe. „Vielfalt ist nicht nur bunt und schön, sie verunsichert auch.“ Multikulti brauche Moderation und gemeinsame Ziele: „Welches Land wollen wir 2030, 2035 sein? Das ist eigentlich eine sozialdemokratische Frage.“
Deutschland werde nicht nur heterogener, sondern zugleich sozial ungleicher. Das gelte auch für benachbarte Regionen: „Es macht einen entscheidenden Unterschied, wo man alleinerziehend lebt. In Düsseldorf sind Kitas seit Jahren gebührenfrei, es gibt fabelhafte Sportanlagen und ein umfassendes soziales Angebot. Wenige Kilometer weiter in Wuppertal und Duisburg denkt man, man sei in einem anderen Land.“ Hinzu komme in armen Städten eine Armutszuwanderung - weil die Mieten dort noch bezahlbar sind. „Die Frage ist: Wie erhalten wir annähernd gleiche Lebensbedingungen in Deutschland?“
Als drittes werde Deutschland älter. „Die Versorgung ist alleine mit professionellen Kräften nicht zu schaffen, jeder muss etwas beitragen, wir brauchen das Wir. Das ist eine nachbarschaftliche, stadtplanerische und kommunale Aufgabe.“ Viertens werde Deutschland digitaler. „Viele Berufe werden wegfallen oder ihre Arbeit wird sich grundlegend verändern.“ Etwa die Hälfte der Menschen sei dafür nicht ausreichend qualifiziert. „Wie verhindern wir, dass die Bildungsverlierer von heute dann endgültig abgehängt werden?“, warf er in den Raum. Was eine moderne Gesellschaft zusammenhalte, seien nicht gemeinsame Werte. Es sei das Gefühl aller Gruppen, gehört zu werden, sowie das grundliegende Gefühl der Gerechtigkeit.