Zwischen Neckar und Alb

Die Kehrseite der Boom-Region

Armut Im prosperierenden Kreis Esslingen wächst die Zahl der Menschen ohne feste Bleibe und Einkommen. 1 440 Wohnsitzlose sorgen für traurigen Spitzenplatz im Land. Von Bernd Köble

Ohne Wohnung und ohne Arbeit. Im reichen Landkreis Esslingen gilt das für eine erschreckend große Zahl an Menschen.Foto: dpa
Ohne Wohnung und ohne Arbeit. Im reichen Landkreis Esslingen gilt das für eine erschreckend große Zahl an Menschen.Foto: dpa

Eine blühende Wirtschaft, vorbildliche Infrastruktur, attraktive Arbeitsplätze und ein hoher Freizeitwert – der Kreis Esslingen lockt mit landesweiten Spitzenwerten immer mehr Menschen an. Vor allem solche: gut ausgebildet, flexibel, wirtschaftlich unabhängig. Doch es gibt auch die andere Seite: 1 440 Menschen lebten im vergangenen Jahr hier ohne eigene Wohnung und ohne dauerhaftes Dach über dem Kopf. So viel wie in keinem anderen Landkreis in Baden-Württemberg. Rund ein Viertel davon sind Frauen. Etwa 13 Prozent der Wohnungslosen sind jünger als 25 Jahre. Kinder, Familien und Rentner trifft es besonders hart.

Zahlen, die alarmierend sind, findet auch Regina Lutz, Sozialamtsleiterin im Esslinger Landratsamt. Sie kennt die Gründe. Die Mieten im Kreis bewegen sich auf Rekordniveau. In den kommenden zehn Jahren mangelt es nach Schätzungen der Kreisverwaltung an 6 000 Sozialwohnungen. Zwar verfügt der Landkreis und seine Kommunen über ein gut ausgebautes Netz an Hilfen, doch vieles davon ist nicht nachhaltig, weil der Wohnungsmarkt schlicht leergefegt ist. Die Fachberatungsstellen, Tagestreffs und Aufnahmehäuser verzeichnen rapide steigende Zahlen. Es fehlt vor allem an Wohnraum mit entsprechender Betreuung. Fast ein Drittel der Bedürftigen ist mit staatlicher Hilfe deshalb in einfachen Pensionen untergebracht. In anderen Landkreisen sind es im Mittel nur etwa drei Prozent.

Regina Lutz spricht von Fehlbelegung, die gefährlich sei: „Auf diese Weise kommt für die Menschen keine Normalität zustande“, sagt sie. Gleichzeitig seien die Unterbringungskosten so hoch wie in normalen Wohnungen. Die Situation wird durch die Flüchtlingslage im Kreis zusätzlich verschärft. Ein Problem, das ohne groß angelegte Wohnbauprogramme eine Menge sozialen Sprengstoff birgt, wie Eberhard Haußmann, der Geschäftsführer des Kreisdiakonieverbands, feststellt: „Ich höre von Betroffenen immer öfter, dass für Flüchtlinge gebaut werde, für sie aber nicht.“

Was also tun? Der Landkreis setzt auf Prävention. Mit der Fachstelle für Mietschuldenübernahme sei der Kreis einer der Vorreiter im Land, betont Landrat Heinz Eininger. Sie griff bisher aber meist erst dann, wenn Räumungsklagen oder fristlose Kündigungen bereits erfolgt waren. Jetzt will man früher reagieren und die Hilfe enger mit Beratung verknüpfen. Träger der freien Wohlfahrt unterstützen vor allem Menschen mit sozialen Schwierigkeiten. Häufig sind Krankheiten wie Alkoholsucht und Depressionen im Spiel. „In fast der Hälfte aller Fälle gehen Wohnungen verloren, weil die Bewohner keine Post mehr öffnen“, sagt Sozialamtsleiterin Regina Lutz.