Zwischen Neckar und Alb
Die Leiden der jungen Leute

Psyche Die Pandemie hat viele Kinder und Jugendliche so aus der Bahn geworfen, dass sie psychologische Hilfe brauchen. Auch viele Eltern seien in Not. Von Petra Pauli

Corona kann körperlich sehr krank machen. Die Pandemie und ihre Einschränkungen sind aber auch für die seelische Gesundheit eine Gefahr. Vor allem Kinder und Jugendliche stecken in der Krise. „Wir haben mehr und deutlich schwerwiegender belastete Familien, die zu uns in die Beratung kommen“, schlägt Ralf Weers, der kommissarische Leiter des Diakonischen Beratungszentrums in Esslingen, Alarm. „Viele Kinder und Jugendliche haben Schwierigkeiten, ihrem Leben eine Struktur zu geben, denn vieles ist weggebrochen. Oder sie ziehen sich komplett zurück. Dazu kommt der Stress in der Schule, das ist oft sehr belastend“, sagt er. Durch Corona sei der Alltag unberechenbarer geworden. „Wenn unsichere Menschen auf eine unsichere Welt treffen, kann es schwierig werden“, erklärt Weers, weshalb psychische Probleme wie Selbstverletzungen, Depressionen bis hin zu Suizidalität derzeit zunähmen.

Die psychologische Beratungsstelle versteht sich nicht nur als Hilfeeinrichtung, sondern ist als Schnittstelle in engem Austausch mit psychiatrischen Einrichtungen, niedergelassenen Psychologen, Schulen und Schulsozialarbeitern. Derzeit würden sich in der Beratungsstelle auffallend viele Jugendliche allein und von sich aus melden. Auch das zeige, wie schwierig die Situation für viele geworden sei. „Wir sehen es als einen Beleg dafür, dass die Ressourcen knapper werden. Ein großer Teil ihrer Selbstwirksamkeit ist für Jugendliche durch die Pandemie weggebrochen. Alle fühlen sich hilfloser, viele schaffen es nicht mehr alleine“, berichtet

 

Keiner braucht sich zu schämen.
Ralf Weers
Diakonisches Beratungszentrum 

 

Gabriele Hübner, die in der psychologischen Beratung vor allem mit Eltern, Kindern und Familien arbeitet.

„Die Schulen müssen unbedingt weiter offen bleiben“, appelliert Hübner, denn sie stellten auch einen sozialen Mittelpunkt dar. Trotzdem war die Rückkehr zum Präsenzbetrieb nicht einfach. Eine Herausforderung ist er vor allem für die Erst- und Fünftklässler. Die haben neu an einer Schule angefangen und monatelang keine Kameraden und Lehrkräfte leibhaftig gesehen. „Viele sind immer noch dabei, ihren Platz in der Schulgemeinschaft zu finden“, sagt Hübner.

Weit verbreitet sei auch die Schulangst bis hin zu Schulverweigerung. Schon seit Jahren beobachten Schulpsychologen, dass der sogenannte Schulabsentismus zunimmt. In der Pandemie hat sich diese Entwicklung weiter verschärft. „Auch deshalb ist es so wichtig, dass die Einrichtungen nicht wieder schließen. Diese Kinder und Jugendlichen müssen regelmäßig in die Schule, auch wenn es nur für wenige Stunden ist“, sagt Gabriele Hübner. Dem Team der Diakonischen Beratungseinrichtung ist es ein Anliegen, dass in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, wie sehr Kinder und Jugendliche in der Pandemie unter Druck stehen und wie viel ihnen oft abverlangt wird. „Es ist derzeit eine völlig unnormale Situation und von daher völlig normal, dass das zu Stress führt“, sagt Ralf Weers und appelliert damit an alle Betroffenen, sich Probleme einzugestehen. „Keiner braucht sich zu schämen. Es ist angemessen, sich Hilfe zu holen“, sagt der kommissarische Leiter. Er berichtet beispielsweise von

 

Die Schulen müssen unbedingt
weiter offen bleiben.   
Gabriele Hübner
Sozialpädagogin
und Therapeutin

 

einem jungen Klienten, den der Lockdown so aus der Bahn geworfen hat, dass der einst zielstrebige Schüler sich jetzt kaum mehr in der Lage sieht, überhaupt zu lernen.

Die Pandemie hat auch dazu geführt, dass wichtige Entwicklungsschritte bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen unterbrochen wurden. „Sie haben sich endlich abgenabelt, wollen hinaus in die Welt – und plötzlich sitzen sie wieder zu Hause und können scheinbar nichts tun“, umschreibt Barbara Hammann, die die Anlauf- und Beratungsstelle für Essstörungen betreut, mögliche Auslöser für eine Krise. Das Unterbewusste suche sich dafür eine Lösungsstrategie. Das könnten beispielsweise Essstörungen wie Magersucht oder Ess-Brech-Sucht sein. „Es ist unterbewusst oft ein Weg, um wieder die Kontrolle zu bekommen“, sagt Hammann. Auch selbstverletzendes Verhalten, umgangssprachlich als Ritzen bekannt, werde als Ausweg gesehen, um Druck abzubauen. Von beidem seien vermehrt Mädchen und Frauen betroffen. Bei den Jungs habe in der Pandemie vor allem der Medienkonsum deutlich zugenommen, der oft mit der Angst einhergehe, sich mit anderen real zu treffen.

Die psychischen Folgen von Corona werden wohl noch lange andauern. „Es gibt derzeit viele projektartige Hilfsmodelle. Man müsse sich aber fragen, wie man sich nachhaltig aufstellt, damit Kinder und Jugendliche Ansprechpartner haben. Da habe ich bis jetzt noch nicht viel wahrgenommen“, sagt Ralf Weers. Für eine dauerhafte Struktur müsse die Politik endlich deutlich mehr Geld investieren, fordert er. Dramatisch sei derzeit die Situation in der Kinder- und Jugend-Psychiatrie, die Einrichtungen seien völlig überlaufen und könnten nur noch die schlimmsten Fälle aufnehmen. Mit der Folge, dass die jungen Klienten, die eigentlich eine Therapie brauchen, länger als früher üblich beim Diakonischen Beratungszentrum betreut würden. So könne die Wartezeit wenigstens überbrückt werden. „Wir lassen keinen allein“, laute das Credo der Beratungsstelle. 

Auch die Eltern leiden

Oft litten nicht nur die Kinder. „Derzeit wird viel Verantwortung in die Familien abgeschoben, die oft schwer zu tragen ist“, so Weers. „Wir haben Eltern, die sagen, dass sie einfach nicht mehr können“, berichtet Gabriele Hübner, auch Schuldgefühle belasteten viele. Dass ihnen überhaupt jemand zuhört und sie ernst nimmt, habe vielen geholfen.

 

Wo Jugendliche Hilfe finden können

Das Diakonische Beratungszentrum in Esslingen, Berliner Straße 26, bietet Erziehungs-, Familien-, Jugend-, Paar- und Lebensberatung an. Die psychologische Beratung ist telefonisch unter 07 11/ 34 21 57-100 oder per Mail unter dbz.es@kdv-es.de zu erreichen. Telefonische Sprechstunde: Montag bis Freitag zwischen 10 und 12 Uhr unter der Telefonnummer 01 52/55 86 58 18. Bei akuten Krisen oder akuter Gewalt sind kurzfristige Krisentermine möglich. Die Beraterinnen und Berater haben alle eine psychotherapeutische Ausbildung. Sie unterliegen der Schweigepflicht. Die Beratung steht allen offen und ist grundsätzlich kostenlos. Für Paar- und Lebensberatung ist eine Eigenbeteiligung erwünscht, die sich nach den finanziellen Möglichkeiten richtet.

Beratungsstellen für Essstörungen befinden sich auch im Diakonischen Beratungszentrum. Telefonische Sprechstunde ist immer montags von 14 bis 15 Uhr. Beratungstermine gibt es unter 07 11/3 42 15 71 00. Wenn die Gedanken nur um Essen oder Nicht-Essen, wenn Gewicht und Figur zum Mittelpunkt des Lebens werden, sollten sich Betroffene oder deren Umfeld Hilfe holen.

Auch der Landkreis bietet in Esslingen und Nürtingen psychologische Beratungsstellen an, Telefon: 07 11/ 39 02-4 26 71. Hilfe gibt es auch bei der Psychologischen Familien- und Lebensberatung Nürtingen der Caritas, Telefon 0 70 22/21 58-0. In Kirchheim bietet die Beratungsstelle der Stiftung Tragwerk eine psychologische Beratung an, Telefon 0 70 21/4 85 59-0. pep