Langeweile kennt Wolfgang Thiel nicht. Der Stuttgarter Maler, Bildhauer und Bühnenbildner ist auch dann, wenn andere Stillstand und Lähmung spüren, in Bewegung - vorzugsweise in seiner zweiten Heimat, dem Kulturpark Dettinger in Plochingen. Dort mietete der Künstler als einer der Ersten einen Atelierraum, mittlerweile sind es zwei. Wenn man ihm dort einen Besuch abstattet, versteht man, weshalb: Die beiden kreativen Keimzellen quellen über vor Material: viel Holz, Papier auch und Metall, dazu Farben, Stifte, Töpfe, Tiegel und was der schöpferische Mensch sonst noch braucht, um großartige Damen herzustellen. Frauen in der Kunst sind sein Markenzeichen, groß sind sie immer, meist spargeldünn und oft selleriegrün - wie in der Ausstellung der Galerie der Stadt Plochingen bis Mai zu sehen war.
Doch Thiel kann auch anders, und er gibt zu, in diesem Corona-Jahr, das so viele Kollegen schwer beutelt, großes Glück gehabt zu haben. Die Probleme kommen noch. „Bei mir wird’s im nächsten Jahr happig“, fürchtet er, da derzeit keinerlei Projekte für 2021 terminiert sind. Auch Raumgestaltungen wie Bühnenbilder und Ausstattungen für Operninszenierungen sind noch nicht in Sicht. Wolfgang Thiel kann trotz der Planungsunsicherheit ruhig schlafen. Als gestandener Künstler ist er gut vernetzt und durch einen Ankauf in der Plochinger Ausstellung ist die Ateliermiete für ein paar Monate bezahlt, kostete ihn allerdings den Corona-Zuschuss. Er sieht’s pragmatisch: „Ich hoffe, dass dies ein kollegiales Überleben sichert.“ Das bedingungslose Grundeinkommen fände er ein beruhigendes Mittel für alle Kulturschaffenden.
Auch die Präsentation in Marktoberdorf im Landkreis Ostallgäu fand in abgewandelter Form von Juni bis Oktober statt und das Künstlerhonorar floss. 1400 Quadratmeter sollte er in dem Allgäuer Kunsthaus bespielen. Doch die Besucher mochten corona-bedingt nicht rein. Da ging der erfinderische Künstler mit seinen Arbeiten halt nach draußen, platzierte Bilder und Skulpturen in Schaufenstern, Kostüme und Requisiten von Operninszenierungen in verschiedenen Häusern und baute auf einem Platz ein ganzes Bühnenbild auf - einzelne Elemente hingen sogar in den Bäumen. Rote Wolfsspuren, analog zu seinem Vornamen, leiteten das Publikum auf einem temporären Skulpturenpfad zu den Exponaten.
In Bruchsal konnte das von ihm mit Majolika-Kacheln gestaltete Otto-Oppenheimer-Denkmal nach mehreren Anläufen im September eingeweiht werden, nachdem die Arbeit zwischenzeitlich auf der Kippe stand. Sechs Jahre beschäftigte sich Thiel mit dem Schicksal der jüdischen Tuchhändlerfamilie. Was ging sonst noch im Corona-Sommer? „Bei meiner Tochter habe ich artig assistiert“, sagt der 69-Jährige und meint „nicht eingemischt“. Janina Thiel ist Bühnenbildnerin und gestaltet, wie der Vater, Bühnenräume für Theater und Oper.
2020 war für ihn, wie für viele andere, auch das Jahr des Aufräumens - vorzugsweise der 54 Schubladen mit Skizzen, Zeichnungen und Mappen von Kunstprojekten oder auch Wettbewerben, „die man nicht gewonnen hat“, sagt Thiel lapidar und erzählt von den 80 Zeichnungen für einen Brunnen in Karlsruhe. Auch die Skizzen für den Beitrag zur Ausstellung des Esslinger Kunstvereins, „Ein Museum auf Probe“, die am 5. Dezember gestartet ist, fanden sich dort. „The Mystery of Boxes“ basiert auf einem bislang nicht verwirklichten Konzept, das Thiel für die Stadt Stuttgart entworfen hat, das sich aber prima auf Esslingen übertragen lässt, wo wenig aktuelle Kunst im öffentlichen Raum präsent ist. In einem Köfferchen zeigt Thiel anhand von Modellen, die mit Holzhussen verhüllte Denkmäler im öffentlichen Raum darstellen, was er meint.
„Ich habe viele Schubladenprojekte und Exposés in der Hinterhand“, verrät er. Wenn Thiel nicht entwirft und tüftelt, dichtet und denkt er: Drehbücher, Theaterstücke und sogar ein satirisches Tagebuch zu „Stuttgart 21“ hat er geschrieben. Immer wieder entsteht Neues, wenn er sich wie ein Forscher im Labor durch die zahlreichen Materialien in seinem Atelier spielt. „Das ist ein Abenteuer“, sagt er und verweist auf seine jüngste Arbeit, eine sitzende Frauenfigur aus rostfarbenem Metall.
Und dann ist da noch der neue Schauraum im Atelierbereich des Kulturparks Dettinger, der gerade fertig geworden ist. Dort wollen die Dauermieter Werner Fohrer, Verena Könekmap, Ibrahim Kocaoglu, Manuela Tirler und Wolfgang Thiel künftig Veranstaltungen, Vorträge, Seminare und Ausstellungen zusammen veranstalten. So viel Gemeinschaftssinn von Einzelkämpfern gab’s im Haus noch nie. Das Konzept steht, man darf gespannt sein.