Zwischen Neckar und Alb

Ein Handicap muss kein Hindernis sein

Inklusion Die Esslingerin Ines Bidinger führt mit Downsyndrom ein sehr selbstständiges Leben. Sie lebt in einer WG der Lebenshilfe, arbeitet in den Werkstätten Esslingen-Kirchheim und engagiert sich politisch.

An der Kasse der WEK kommen Ines Bidinger ihre Fähigkeiten im Kopfrechnen zugute. Foto: pr

Ines Bidinger ist eine starke Frau. Dabei hat die 38-Jährige, die mit Downsyndrom lebt, viele Hindernisse zu überwinden. Seit fast zehn Jahren lebt sie überwiegend selbstständig in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft der Lebenshilfe Esslingen, seit 20 Jahren arbeitet sie in den Werkstätten Esslingen-Kirchheim (WEK). Im Alltag braucht sie nur wenig Unterstützung. Im Gegenteil: „Anderen zu helfen, ist mir sehr wichtig“, sagt die herzliche Frau. Deshalb engagiert sie sich auch im Inklusionsbeirat der Stadt Esslingen und im Werkstattrat der WEK.

Ihre Familie hat Ines Bidinger immer unterstützt. Die Mutter, selbst Lehrerin, nahm sie mit in ihre Klasse, später besuchte die Tochter die Rohräckerschule. Durch Praktika in verschiedenen Bereichen bekam sie die Gelegenheit, ein geeignetes Arbeitsfeld zu finden. „Ich habe mich dann entschlossen, in der Küche zu bleiben“, erzählt sie. Im wöchentlichen Wechsel ist sie für Wäsche, Abspülen, Putzen oder die Essensausgabe eingeteilt. „Das macht mir am meisten Spaß.“ Auch die Kasse vertraut man ihr an. „Ich kann gut Kopfrechnen“, meint sie stolz. Das Vertrauen des Arbeitgebers weiß sie zu schätzen. „Man muss gut aufpassen, dass in der Kasse nichts fehlt.“

In Esslingen-Hohenkreuz wohnt Ines Bidinger mit ihrem „Schatz“ Bernd und Freundin und Kollegin Simone in einer WG der Lebenshilfe Esslingen. Den Alltag bewältigen die drei weitgehend alleine. Die Mitarbeiter des ambulanten Wohnens beraten in der Auswahl gesunder Lebensmittel. Beim Kochen am Wochenende unterstützen die Mitarbeiter je nach Bedarf. Im Alltag bekommen die Bewohner individuelle Unterstützung von Mitarbeitern der Lebenshilfe. Ihr Zimmer räumt Ines Bidinger auch mal alleine auf. „Ich mag’s ordentlich“, betont sie. Streit mag sie gar nicht - hier ist sie froh, dass die Mitarbeiter der Lebenshilfe sie bei der Klärung von Konflikten unterstützen.

Anfangs brachte sie ein Fahrdienst zur Arbeit. „Aber ich wollte selbstständig sein“, erklärt sie. Deshalb habe sie so lange geübt, bis die Busfahrt nach Esslingen-Zell klappte. Dabei muss sie einmal umsteigen. Inzwischen bewältigt sie auch die Fahrt zu den Eltern nach Stuttgart oder den Geschwistern, die in umliegenden Kommunen wohnen, alleine. „Ich will möglichst viel selbst machen.“

Die 38-Jährige ist eine gesellige Frau. In ihrer Freizeit nimmt sie gerne Angebote der Offenen Hilfen der Lebenshilfe in Anspruch: Montags nimmt sie an einer Sportgruppe teil, mittwochs ist Freizeitkreis, ein andermal geht es zum Schwimmen, und auch Wochenendaktivitäten und -freizeiten genießt sie. Vieles organisiert sie in ihrer Freizeit selbstständig: alleine oder mit der Freundin ins Kino oder zum Schaufensterbummel in die Stadt - alles kein Problem. In ihrer Freizeit spielt sie darüber hinaus in der WEK-Band Schlagzeug und singt. So viele Interessen können auch zu Freizeitstress führen. Deshalb unterstützen die Mitarbeiter sie in der entspannten Planung der vielen Angebote.

Doch Ines Bidinger denkt nicht nur an sich selbst: Seit Kurzem ist sie eines von 14 Mitgliedern im Inklusionsbeirat der Stadt Esslingen, der den Gemeinderat berät. Die Themen Wohnen und Arbeit liegen ihr am Herzen. „Es wäre auch wichtig, dass Rollstuhlfahrer ohne Probleme Busse und Bahn benützen können“, fordert sie.

„Ines ist wirklich eine starke Frau“, sagt Erika Synovzik, die Leiterin der Offenen Hilfen sowie Mitglied des Inklusionsbeirats für die Lebenshilfe Esslingen. „Sie will sich einbringen, denkt mit und ist für andere da“, beschreibt sie deren hervorstechendste Charaktereigenschaften. Dazu gehöre auch eine große Portion Mitgefühl und ein soziales Bewusstsein. „Liebe zurückgeben“, nennt Ines Bidinger dies. Bei Menschen mit Handicap denke man immer zuerst an die Unterstützung, die sie benötigen, aber sie könnten auch sehr viel geben, weiß Synovzik. „Bei Ines ist das sehr ausgeprägt. Sie gibt oft mehr, als sie bekommt.“ Anzupacken, wo Hilfe benötigt wird, sei doch selbstverständlich, meint diese. Die größten Hindernisse dafür, dass Menschen mit Behinderung ihre Stärke unter Beweis stellen können, sieht Synovzik im mangelnden Zutrauen der Gesellschaft, was diese leisten können. Und dann sei die Angst, es könne irgendetwas passieren, eine weitere große Barriere. „Wenn an vielen Stellen sichtbar wird, was Frauen mit Handicap alles machen und wo sie sich einbringen können, können solche Hürden abgebaut werden“, ist Synovzik überzeugt. pm