Zwischen Neckar und Alb
"Es geschah mitten unter uns"

Gedenkstunde Esslingen erinnert an die während der Naziherrschaft deportierten Juden.

Esslingen. Es waren 125 Namen, die mit dem Wohnort und dem Lebensalter vorgelesen wurden: Auch dieses Jahr gedachte man auf dem Esslinger Hafenmarkt den ab 1941 aus Esslingen deportieren Juden. Im Corona-Jahr habe man überlegt, für die Gedenkstunde auf dem Hafenmarkt nur Kerzen aufzustellen und sich nicht zusammenzufinden, sagte Reinhold Riedel, der die Veranstaltung vor 29 Jahren ins Leben gerufen hat. Aber in den Reihen der Veranstalter – dem Verein Denk-Zeichen, dem Kulturzentrum Dieselstrasse und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) – war der Wunsch groß, sich vor Ort zu treffen. Tatsächlich kamen knapp 100 Menschen zusammen, ähnlich wie in anderen Jahren auch, aber diesmal mit Abstand, Maske und Genehmigung der Stadt Esslingen.

Am 28. November vor 79 Jahren wurde die erste Gruppe jüdischer Frauen, Männer und Kinder aus Esslingen ins Konzentrationslager nach Riga deportiert. Unter ihnen waren zahlreiche Kinder aus dem jüdischen Waisenhaus in Esslingen, ebenso wie Mitarbeiter desselben.

Rabbiner Yehuda Pushkin sprach ein Gebet und einen Psalm, nachdem die Namen der Deportierten verlesen worden waren. „Es geschah mitten unter uns, an diesem Ort“, sagte der evangelische Dekan Bernd Weißenborn. Das Gedenken sei wichtig, um den Deportierten eine Stimme, eine Seele und etwas von ihrer Würde wiederzugeben. Genug sei es aber nicht. Gerade angesichts aktueller Angriffe auf jüdische Menschen müsse man „klar widersprechen“ bei rechtsradikalen Ansichten, Antisemitismus und Hetze.

Esslingens Ordnungsbürgermeister Yalcin Bayraktar würdigte die Gedenkstunde, die zeige, dass sich das Unrecht „in dieser Stadt an und unter den Augen von Bürgern“ vollzogen habe. Esslinger waren Täter wie Opfer – heute sei unsere Aufgabe, eine gerechte Gesellschaft für alle zu verwirklichen. „In der Kommune realisieren sich die Werte einer Gesellschaft.“

In den vergangenen Jahren seien „die Grenzen des Sagbaren verschoben“ worden, stellte Kulturwissenschaftlerin und Gastrednerin Irme Schaber fest. Bei ihr schrillten die Alarmglocken, wenn ein ­„alt-neuer Antisemitismus wieder auflebe“, wenn Rechtsterror und rechtspopulistische Grenzüberschreitungen an der Tagesordnung seien und Teile der Querdenken-Bewegung das Infektionsschutzgesetz mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 ver­glichen. Deshalb sei es wichtig, dass die Zeitzeugen der Shoah ihre Geschichte erzählten. Man müsse dagegenhalten, „wenn Dinge umgedeutet und in falsche Zusammenhänge gestellt werden“.Karin Ait Atmane