Zwischen Neckar und Alb

Esslingen wächst und wächst

Bevölkerung In Esslingen zu leben, ist begehrt. Die Kreisstadt im Neckartal nähert sich der 100 000 Einwohner- Marke. Die Wohnungsnot nimmt allerdings immer schärfere Formen an. Von Christian Dörmann

Den Bestand halten und sich ansonsten höchstens auf ein moderates Wachstum beschränken: Das sind die Vorgaben des Gemeinderats, wenn es um die Bevölkerungsentwicklung der Stadt geht. Auch das Aktionsbündnis lebenswertes Esslingen hatte während der Beratungen über den Flächennutzungsplan 2030 die Position vertreten: „Esslingen soll keine Großstadt werden.“ Und wie sieht die Wirklichkeit aus?

Die Esslinger Bevölkerung wächst kontinuierlich - die Lücke bis zur magischen Zahl von 100 000 Einwohnern wird zusehends kleiner.

Für Esslingens Ersten Bürgermeister und Baubürgermeister Wilfried Wallbrecht gelten die Vorgaben des Gemeinderats: „Wir haben keine Ambitionen, was das Erreichen der 100 000-Einwohner-Marke angeht.“ Ob sich diese Sicht mit der Wirklichkeit verträgt, steht auf einem anderen Blatt. Seit 2006 hat die Zahl der Esslinger Bürger um 6 000 zugenommen, und das Statistische Landesamt verzeichnet weiter einen kontinuierlichen Anstieg auf fast 93 500 Einwohner. Dies entspricht dem zuletzt erfassten Stand vom Ende des dritten Quartals 2018. Blickt man auf die Region, dann liegt Esslingen bereits um etwa 120  000 Menschen über dem, was an Bevölkerungswachstum prognostiziert wurde.

„Wir haben nie damit gerechnet, dass es eine solche Dynamik in der Bevölkerungsentwicklung gibt“, sagt Wolfgang Ratzer, der Leiter des Esslinger Stadtplanungsamts. Man werde von dieser Entwicklung geradezu überrollt. „Die Menschen kommen vor allem wegen der Arbeitsplätze“, betont Wolfgang Ratzer, und Baudezernent Wallbrecht unterstreicht: „Sobald junge Menschen ihre Ausbildung abgeschlossen haben, gehen sie dorthin, wo es Arbeit gibt.“ Das trifft auf die Stadt und den Landkreis Esslingen allemal zu, wo der Fachkräftemangel mittlerweile zum größten Unsicherheitsfaktor für die konjunkturelle Entwicklung geworden ist. So ergibt sich für Ratzer die vielleicht ungewollte, aber immerhin logische Konsequenz: „Wir werden weiter wachsen.“

Die Folgen sind auf dem Wohnungsmarkt deutlich abzulesen. Die Stadt Esslingen liegt im bundesweiten Mietspiegelindex bereits auf dem 16. Platz. Mit einem Quadratmeterpreis von 14,40 Euro muss bei Neu- oder Wiedervermietungen mittlerweile gerechnet werden. Der Mieterbund schlägt Alarm, und der Deutsche Gewerkschaftsbund erklärt die zunehmende Wohnungsnot zum Thema Nummer eins vor den Kommunalwahlen im Mai.

Und wie sieht Esslingens Antwort auf diese Herausforderung aus? Der geltende Flächennutzungsplan, wie er im vergangenen Jahr nach langen und schweren Geburtswehen gegen die Stimmen der Grünen von einer deutlichen Gemeinderatsmehrheit beschlossen worden ist, sieht bis zum Jahr 2030 etwa 3 100 neue Wohnungen im Innenbereich der Stadt und auf Flächen im Außenbereich vor, die neu erschlossen werden müssen. Das Stuttgarter Regierungspräsidium hat angesichts der Wohnungsknappheit wenig Verständnis für diese verhaltenen Neubaupläne und die Philosophie des Maßhaltens. Zwischen 100 und 150 Wohnungen werden derzeit in Esslingen pro Jahr neu gebaut. „Eigentlich brauchen wir das Doppelte, um nur die aktuelle Entwicklung aufzufangen“, erklärt Bürgermeister Wilfried Wallbrecht. Im Jahr 2017 sind übrigens nur 50 neue Wohnungen in Esslingen fertig geworden.

Ein Ende des schleppenden Fortschritts auf dem Wohnungsmarkt ist nicht in Sicht, auch wenn etliche Wohnbauprojekte geplant sind oder gerade realisiert werden. Die Verfahren sind langwierig, nicht zuletzt auch wegen des Protests von Bürgern, die um Frei- und Erholungsflächen und um Frischluftschneisen fürchten. Dass dabei aber auch persönliche Interessen eine Rolle spielen, liegt in der Natur der Sache.

Lange Verfahren, hohe Baupreise, immer mehr kostentreibende Verordnungen und knappe Flächen. Wenn diese Entwicklung anhält, zeichnet sich für Baubürgermeister Wallbrecht bereits eine weitere Verteuerung für Mietwohnungen und auch für Eigentum ab. Das erhöht nicht nur die Not auf dem Immoblilienmarkt, sondern birgt nach Einschätzung Wallbrechts auch die Gefahr einer gesellschaftlichen Spaltung: „Der bei uns so wichtige Mittelstand wird dünner.“