Unsere Region ein Unwetter-Hotspot im Bundesmaßstab? Wer das hört, mag skeptisch reagieren. Die Erinnerung an den 28. Juli 2013 könnte indes alle Zweifler überzeugen. An diesem Sonntag zog nach einer langen Hitzeperiode ein grässliches Unwetter von Süden kommend am Albtrauf entlang. Hagelkörner in der Größe von Golf- und Tennisbällen traktierten Autos, Dächer, Fenster – die Schäden beliefen sich zwischen Rottenburg und unserer Gegend am Ende auf über eine Milliarde Euro. Kein Wunder also, dass es die Meteorologen nun hierher zieht. „Wieso gewittert es hier so häufig?“, formuliert Michael Kunz die Frage aller Fragen. Der promovierte Meteorologe ist Professor am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und gehört zum Leitungsteam von „Moses“.
Dieser Forschungsverbund leitet seinen Namen nicht von den biblischen Ausmaßen der zu beobachtenden Unwetter ab. Hinter der Abkürzung verbirgt sich der englische Ausdruck „Modular Observation Solutions for Earth Systems“, was mit „Mobil und modular einsetzbare Beobachtungssysteme für Erd- und Umweltsysteme“ übersetzt werden kann. „Moses“ untersucht Phänomene wie Ozeanwirbel und das Auftauen von Permafrost-Böden.Auch die Erkundung von hydrologischen Extremen wie Gewitter, Hagel und Starkniederschläge sowie Hitzeperioden, die eben solchen Unwettern oft vorausgehen, hat „Moses“ im Visier. Und genau das führt die rund 30 Forscher in diesem Jahr zumindest digital sozusagen im Rahmen eines „schwäbischen Moses“ in die Region zwischen Alb und Neckartal, wie den promovierten Meteorologen Andreas Wieser, der ebenfalls am KIT arbeitet und wissenschaftlicher Direktor des „KIT-cube“, eines hochentwickelten Atmosphären-Messsystems, ist.
Mobile „KIT-cube“-Elemente wurden nun also an Alb und Neckar verfrachtet. 20 Messplätze suchte man aus, unter anderem in Sulz, Rottweil, Haigerloch oder Balingen. Der Hauptmessplatz liegt bei Rottenburg. Ebenfalls an der Kante des gedachten atmosphärischen Beobachtungswürfels liegt der Galgenberg. Für die Wissenschaftler, so Kieser, ein idealer Standpunkt: Er liegt hoch, kann mit Strom versorgt werden – und der Pächter, der Alpaka-Farmer Schaber, war mit den Sommer-Untermietern einverstanden.
Interessant sind für die Meteorologen unter anderem die Strömungsverhältnisse. Wie bildet sich Hagel? Auf welchen Bahnen ziehen die Hagelereignisse? Dafür können Flugzeuge eingesetzt werden. Die Moses-Forscher nützen an ihren Messplätzen das Dopplerlidar. Mit einem Laserstrahl wird wie bei der Geschwindigkeitsmessung in der Verkehrsüberwachung der Speed kleinerer Aerosol- und Staubteilchen repräsentativ für die Windgeschwindigkeit gemessen.
Die Strömungen sind wichtig, weil für schwere Gewitter bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, erklärt Michael Kunz. Viel Feuchtigkeit und eine Änderung der Windgeschwindigkeit in der Höhe ist nötig. „Organisierte Konvektion“ nennen das die Fachleute. Wenn Wind, Temperatur und Feuchtigkeit zusammenspielen, kommt es zu den Superzellen, aus denen Tornados entstehen können, sagt Kunz. Aber: „Diese thermodynamischen Bedingungen sind eigentlich am Rhein besser.“
Warum kracht und hagelt es dann doch hier öfter und heftiger? Kunz und Kollegen haben eine Hypothese. Und die geht so: Für Südwestwinde ist der Schwarzwald eine Barriere. Nur ein Teil der feucht-warmen Luft schafft es über ihn hinweg. Der Rest sucht sich einen anderen Weg und umfließt das Mittelgebirge im Norden und Süden. Die Luft strömt also aus verschiedenen Richtungen in die Gegend zwischen Rottenburg, Reutlingen und Alb. Die Luftmassen treffen zusammen. Kunz: „Die Luft kann dann nur nach oben.“ Und wenn warme Luftmassen aufsteigen, bilden sich Gewitter.
Das Monster-Unwetter 2013 reichte beinahe 15 Kilometer hoch bis in die Stratosphäre, blickt Kunz zurück. Die Stratosphäre bildet den Deckel für das Wetter, dessen Phänomene sich normal darunter in der Troposphäre abspielen. So entsteht die typische oben abgeflachte Form der Gewitterwolken mit ihren Amboss-Ecken, erklärt Andreas Wieser.
Modellsimulationen bestätigen indes die Hypothese, dass es aufgrund der vom Schwarzwald umgeleiteten Luftmassen hier so heftig kracht und die Gewitterwolken richtig hoch hinaus kommen, berichtet Kunz. „Aber gemessen wurde das noch nicht.“ Das soll eben nun passieren.
Freilich wollen die Wissenschaftler auch etwas über die Größenverhältnisse der Hagelkörner und der Regentropfen selbst erfahren. Da kommt das Niederschlagsradar in Nürtingen ins Spiel. Stellt man Töpfe auf den Boden, um den Niederschlag zu messen, gibt es zwischen ihnen Lücken. Die kennt das Radar nicht, sagt Jan Handwerker, ein weiterer promovierter KIT-Meteorologe, der mit von der Partie ist. „Wir messen auch, wie weit der Niederschlag in die Höhe geht“, erklärt er. Es brauche eben Höhe, damit die Temperaturen Hagelbildung erlauben.
Messfehler sollen mit so genannten optischen Distrometern vermieden werden. Sie messen äußerst exakt die Größe und Geschwindigkeit von Niederschlagspartikeln, die den Laserstrahl des Geräts unterbrechen. Zwei solcher Erbsenzähler stehen auch in Nürtingen. Weitere beherbergt die Bodenstation am Owener Berghof Rabel.
Dass es um Grundlagenforschung geht, räumt Kunz ein. Sie ziele aber darauf ab, Vorhersagen und Frühwarnsysteme zu verbessern. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Wetterdienst. Das Zusammenspiel von Dürrephasen, auf die oft Starkregen folgt, steht im Mittelpunkt des Interesses der beteiligten Uni Tübingen. Für Schadens- und Risikomodelle interessiert sich die Versicherungswirtschaft. Und um dem Klimawandel mit angepassten Neupflanzungen zu begegnen, untersuchen bayerische Forscher mit dem schwäbischen „Moses“ auch, wie die Flora auf Alb und in den Neckarauen auf Hitze und Dürrestress reagiert.
Seit Beginn Mai messen die Forscher nun. Eine intensive Gewitterphase erwartet man im Juli. Dürrephänomene rücken in der zweiten Projektphase im August und September in den Fokus. Derweil hoffen die Forscher bei allem Respekt für die hier Lebenden nicht nur auf schlechtes Wetter, sondern auch auf bessere Corona-Bedingungen. Dann würden sie der Öffentlichkeit bei einem Tag der offenen Tür gerne Einblick in ihr Labor am Galgenberg gewähren.