Ihre Muttersprache wurde zur Fremdsprache, ihr Heimatland zur dunklen Erinnerung, ihre Geburtsstadt zu einem Albtraum. Berta Hamburger hatte in Esslingen eine glückliche Kindheit erlebt, doch 1938 floh sie vor dem zunehmenden Druck der NS-Diktatur gegen Menschen jüdischen Glaubens in die Vereinigten Staaten: „Deutschland hatte uns verlassen. Nicht wir hatten Deutschland verlassen“, schrieb sie aus dem US-amerikanischen Exil in einem Brief, den zwei ihrer Nachfahrinnen, Rebecca Schorsch und Naomi Schorsch-Stein, am Mittwochabend vorlasen.
Die beiden Frauen waren aus den USA zur Gedenkfeier für Holocaust-Opfer auf dem Esslinger Hafenmarkt angereist. Sie haben familiäre Verbindung zur Neckarstadt: Ihre Großtante, die Briefschreiberin Berta Hamburger, war hier geboren worden, ihr Urgroßvater Theodor Rothschild war Leiter des örtlichen Israelitischen Waisenhauses gewesen. Ismar Schorsch, ihr Vater, kam in Hannover zur Welt und emigrierte 1938 in die USA. Sein Leben wollen die Frauen in einem Film dokumentieren.
Die Gefahr wurde zu groß
Es war mucksmäuschenstill auf dem Esslinger Hafenmarkt, als die Namen der 125 Männer, Frauen und Kinder verlesen wurden, die sich 1941 hier auf Befehl der Nazi-Schergen versammeln mussten. Sie wurden in Vernichtungslager im Osten deportiert und dort ermordet. Auch als Rebecca Schorsch und Naomi Schorsch-Stein Auszüge aus dem Brief ihrer Großtante verlasen, war kein Laut zu hören. In eindringlichen Worten berichtete Berta Hamburger in ihrem Schreiben von ihrer Jugend, dem Besuch der Höheren Mädchenschule, dem Erwachsenwerden: „Esslingen war unsere Stadt. Die Vorstellung, dass wir Fremde oder eine Gefahr für das Land, das wir liebten, seien, trat bei uns nie auf.“
Im Laufe der Jahre nach 1933 aber sei ihr klar geworden, dass sie in Deutschland nicht bleiben könnte. Ihr gelang die Flucht in die USA. Ihr Vater aber, so berichtet sie in dem Brief weiter, blieb in Esslingen. Als Leiter des örtlichen Israelitischen Waisenhauses wollte Theodor Rothschild aus Pflichtgefühl, Verantwortungsbewusstsein und Menschlichkeit nicht weggehen: „Er war gewarnt worden, dass das Waisenhaus geschlossen würde, wenn er auswanderte.“ So blieb er bis zum Ende. Das Waisenhaus wurde 1938 von einer Nazi-Bande gestürmt, Theodor Rothschild wurde im August 1942 von Stuttgart nach Theresienstadt deportiert und starb dort im Juli 1944. Seine Tochter Berta Hamburger wollte mit Blick auf diese Geschehnisse nie nach Deutschland zurückkehren. Doch für sie, so teilt sie in ihrem Brief mit, war es eine späte Geste der Versöhnung, der Wiedergutmachung und der Genugtuung, als die ehemalige Arbeitsstätte ihres Vater 1983 in „Staatliches Waisenheim – Theodor-Rothschild-Haus“ umbenannt wurde.
Erinnerungskultur pflegen und das Vergessen verhindern sind auch Ziele der Gedenkfeier. Christen und Juden würden an einen Gott glauben, der sich immer auf die Seite der Schwachen stelle, sagte Pastoralreferent Raphael Maier von der katholischen Kirche. Es dürfe daher nicht sein, dass sich Menschen in der Gegenwart in Deutschland überlegen müssten, ob sie sich offen zu ihrem jüdischen Glauben bekennen. Den Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Extremismus , so ergänzte Bürgermeister Ingo Rust, könne die Politik nicht alleine führen, sie brauche dafür Unterstützung aus der Gesellschaft. Die Opfer des Holocaust seien Menschen mit Schicksalen.
Auf einige dieser Schicksale wiesen Rebecca Schorsch und Naomi Schorsch-Stein hin. Die Aufarbeitung und Bewahrung ihrer deutschen Wurzeln ist ihnen ein Anliegen. Auch aus diesem Grund drehen sie einen Dokumentarfilm über ihren Vater Ismar Schorsch. Die Gedenkfeier am Hafenmarkt wurde als Teil des Projekts gefilmt und aufgezeichnet. In zwei Jahren soll der Film publiziert werden. Die beiden Frauen aber wollen schon jetzt ein Zeichen der Versöhnung setzen: Sie möchten neben der US-amerikanischen die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen.
Erinnerungskultur in Esslingen
Die Gedenkfeier: Organisiert wurde die Veranstaltung zur Erinnerung an die Holocaust-Opfer von der Initiative zum Gedenken, dem Verein Denk-Zeichen, dem Kulturzentrum Dieselstraße und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten mit Unterstützung der Stadt Esslingen. Die Gedenkfeier findet seit dem Jahr 1991 und somit seit 30 Jahren statt.
Die Mitwirkenden: Die Begrüßung und Erläuterungen während der Gedenkfeier auf dem Hafenmarkt erfolgten durch Reinhold Riedel, für die musikalische Umrahmung sorgte Wolfgang Fuhr. Die Namen der Deportierten und Ermordeten wurden von Iris Schweikert, Gerhard Voß und Melanie Winkler verlesen. Gebet und Psalm kamen von Rabbiner Jehuda Pushkin. sw