Zwischen Neckar und Alb

Gleichgewicht wird löchriger

Zur Vergrämung der Eidechsen gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen

Entlang der Bahnlinie Tübingen–Stuttgart zwischen ­Oberboihingen und Wendlingen werden Eidechsen vergrämt. Naturschutz­experten sehen dies kritisch.

Unter diesen Planen wird es den Eidechsen bei sonnigem Wetter bald zu heiß. Sie flüchten, womöglich auf die angrenzende L¿1250.
Unter diesen Planen wird es den Eidechsen bei sonnigem Wetter bald zu heiß. Sie flüchten, womöglich auf die angrenzende L¿1250. Foto: Jürgen Holzwarth

Wendlingen. „Die Bahn will an der Strecke Tübingen–Stuttgart den Zugverkehr flexibler gestalten. Für die notwendige zweigleisige Signalisierung müssen Kabel verlegt werden“, erklärt der Sprecher des Bahnprojekts Stuttgart–Ulm, Jörg Hamann, zu den weißen Folien. Die zuständige Behörde, die bei Vergrämungen von Eidechsen kontaktiert werden muss, ist die Untere Naturschutzbehörde. „Unsere Experten sind der Ansicht, dass man die Aktion anzeigen muss, aber sie muss nicht von der Behörde genehmigt werden“, sagt Jörg Hamann.

Dies sieht Dr. Roland Bauer, Ökologe an der Unteren Naturschutzbehörde anders. Er verlangt, dass die Flächen so aufgewertet werden, dass die streng geschützten Tiere einen neuen Lebensraum annehmen. Beispielsweise durch die Anlage von sogenannten Sandlinsen, die den Eidechsen als Eiablage dienen.

Bauer geht davon aus, dass der Lebensraumes aufgewertet wird. Von den Gegebenheiten vor Ort hat er sich noch nicht überzeugt. Naturschützer sehen die Vergrämung allerdings nicht so entspannt. „Natürlich kann man Eidechsen vergrämen, wenn man einen neuen Lebensraum in der Nähe schafft. Diesen müssen die Tiere selbst erreichen können“, sagt Karl-Heinz Frey, ehemals Sprecher der Naturschutzverbände im Landkreis. Wo diese Flächen sein sollen, kann Frey nicht erkennen. Direkt neben der Strecke verläuft die Landesstraße. Eine Überquerung überleben die Tiere nur selten. Der Bahndamm ist der einzige Lebensraum, wo Eidechsen einigermaßen ungestört leben und sich die Populationen auch austauschen könnten. Eine Ausgleichsfläche zu finden, ist für Frey ein Prob­lem, das sich nicht im Sinne der Eidechse lösen lässt.

Der Experte weist darauf hin, dass erst vor Kurzem eine nicht unbeträchtliche Population im Bereich der Neubaustrecke entdeckt worden ist, für die ein neues Quartier gefunden werden muss. Im Umfeld des Stuttgarter Bahnhofes gibt es 8 000 Tiere, die auf eine Fläche bei Pforzheim umgesiedelt werden sollen. Er ist sich sicher, dass das nicht funktioniert, und ob dies in Folge überprüft wird, ist offen.

Frey zeichnet daher ein eher pessimistisches Bild für die Zukunft der kleinen Echsen, deren Art seit 300 Millionen Jahren die Erde bevölkert, denen der Mensch in den vergangenen 100 Jahren jedoch extrem zugesetzt hat. Durch den hohen Grad der Zersiedlung wurde ihr Lebensraum immer kleiner, durch die intensive Landwirtschaft die Nahrungsgrundlage dezimiert. „Eidechsen sind Beutetiere für Bussarde, Füchse, Marder und sie fressen gleichzeitig Insekten“, sagt Frey. Gibt es die Echsen nicht mehr, entsteht eine Lücke, die durch andere Tiere gefüllt wird, die wiederum möglicherweise keine Fressfeinde mehr haben und anders bekämpft werden müssen. Ein Teufelskreis. An der Eidechse, so Frey, wird sichtbar, dass Eingriffe in die Natur Folgen haben. Sterben einzelne Tierarten aus, merkt der Mensch es zunächst nicht, wenn das Geflecht des ökologischen Gleichgewichts immer löchriger wird. Doch werden die Löcher größer, bricht irgendwann das Gleichgewicht, zu dem auch der Mensch gehört, zusammen. „Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen“, sagt Frey. Eine Vergrämung von Eidechsen, um ein Baufeld freizumachen, kann nur mit einer Ausnahmegenehmigung erfolgen. Und die Eidechse ist in ganz Europa als streng zu schützende Art eingestuft.

Die Bahn indes hätte ahnen können, dass die Eidechsen ein Problem darstellen, denn schon 2012, als entlang der Neubautrasse bei Kirchheim Echsen umgesiedelt wurden, wies Frey im Namen des Arbeitskreises der Landesnaturschutzverbände das Eisenbahnbundesamt darauf hin, dass bisher keine Umsiedlungsaktion als gelungen bekannt sei, da meist nach einigen Jahren keine Population mehr nachweisbar war. Besonders kritisch sei hier zu sehen, dass das Gelände zu klein für die Anzahl der Tiere sei, zudem noch eingezäunt werden sollte, sodass Nahrungskämpfe unausweichlich seien und die Population schon aus Erschöpfung schwinde.