Zwischen Neckar und Alb

Immer mehr spielen nicht mehr mit

Psychiatrie Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten wächst. Im Kreis gibt es ein dichtes Netz an Hilfen, aber zu wenig Therapieplätze. Von Bernd Köble

Familiäre Vorbelastung, Dauerstress im Alltag oder Suchtprobleme - Ursachen für psychische Störungen sind vielfältig.Symbolbild
Familiäre Vorbelastung, Dauerstress im Alltag oder Suchtprobleme - Ursachen für psychische Störungen sind vielfältig.Symbolbild

Lehrer, Erzieher, Hausärzte - sie sind meist die ersten, die merken, wenn etwas nicht stimmt. Aggressives Verhalten, innerer Rückzug, Angstzustände oder Schulverweigerung sind nur einige von vielen Signalen, die bei Kindern und Jugendlichen auf eine psychische Störung hindeuten können. Die Zahl der Betroffenen wächst. Zum einen, weil Ärzte heute genauer hinschauen, zum anderen, weil Leistungsdruck, Medienkonsum und Familienstrukturen sich verändern. 15 Prozent der mehr als 60 000 Heranwachsenden im Alter zwischen sechs und 18 Jahren im Kreis Esslingen gelten inzwischen als psychisch auffällig. Sechs Prozent davon bräuchten dringend eine therapeutische Behandlung.

Der Gang zu einer Beratungsstelle, einem niedergelassenen Therapeuten oder einer psychiatrischen Klinik kostet Betroffene und Angehörige oft viel Überwindung. Umso problematischer ist es, wenn Hilfe nicht schnell zu bekommen ist. Zwar haben Einrichtungen wie die Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Esslingen eine Versorgungspflicht, wenn Patienten suizidgefährdet sind oder eine Bedrohung für andere darstellen. Rund die Hälfte aller Fälle gilt als akut. Wer nicht als Notfall einzustufen ist, wartet jedoch zermürbend lange auf einen Platz. Bis zu fünf Monate, wenn es um eine ambulante Therapie geht. Bei der stationären Aufnahme sind es bis zu zwei Monate und mehr. „Für betroffene Familien ist das oft schwer auszuhalten“, sagt Michael Köber, der als Sachgebietsleiter im Esslinger Landratsamt für die Psychiatrieplanung zuständig ist. Das Risiko, dass die Erkrankung chronisch wird, steige dadurch.“

Seit diesem Jahr gibt es am Klinikum Esslingen 26 stationäre und elf Tagesplätze für Kinder und Jugendliche. Das reicht in seltenen Fällen nicht einmal für die Pflichtversorgung. Immer wieder kommt es vor, dass Notfälle an andere Einrichtungen, wie etwa das Stuttgarter Olga-Hospital, weitervermittelt werden müssen. Doch andernorts sieht es meist ähnlich aus. „Es gibt kaum noch Überhänge“, sagt Michael Köber. „Alle Einrichtungen im Land arbeiten unter hohem Auslastungsdruck.“ Als Puffer dienen die Außensprechstunden und Institutsambulanzen, die es auch im Kirchheimer Krankenhaus gibt, wo die Erwachsenen-Psychiatrie untergebracht ist.

Dabei ist man im Kreis Esslingen in einer vergleichsweise komfortablen Lage, was die Vielzahl der Hilfen betrifft. Fast nirgendwo sonst im Land ist das Netz an psychologischen Beratungsstellen engmaschiger als hier. „Wir sind mit unserem Angebots-Mix in Verbindung mit den niedergelassenen Ärzten in der Fläche gut aufgestellt“, stellt der Esslinger Landrat Heinz Eininger fest. „Trotzdem stoßen alle Mitspieler an Kapazitätsgrenzen.“ Paradox: Weil Neurologen und Psychiater im Verteilungsschlüssel der Kassenärztlichen Vereinigung in einem Berufsbild zusammengefasst werden, gilt der Landkreis Esslingen sogar als überversorgt, was die Zahl der psychiatrischen Praxen betrifft - trotz monatelanger Wartezeiten.

Erste Anlaufstation, wenn jemand Hilfe braucht, sind in der Regel die Beratungsstellen von Landkreis und freien Trägern. Oft sind Suchtprobleme und psychische Leiden von Eltern der Grund, weshalb auch Kinder krank werden. Von den rund 500 Familien im Kreis, die im Jahr 2017 die Angebote der „ProjuFa“ (Proaktive Beratung und Hilfen für junge Familien) in Anspruch nahmen, lebte in jeder dritten mindestens ein Elternteil, der psychisch auffällig war. Die engere Vernetzung von Fachstellen mit den medizinischen Abteilungen ist neben der Forderung nach einem Bettenausbau deshalb ein wesentlicher Punkt im Psychiatrieplan bis 2027, den der Landkreis vor Weihnachten fortgeschrieben hat.

Als besonders heikel gilt der Übergang von Kindern und Jugendlichen in die Erwachsenen-Psychiatrie, die sich im Therapieansatz deutlich unterscheiden. „Hier brauchen wir Angebote für den Übergang“, sagt Michael Köber. „Die Bedürfnisse ändern sich ja nicht schlagartig mit Vollendung des 18. Lebensjahrs.“ Noch 2019 soll mit der Einrichtung einer sogenannten Adoleszenten-Station für Patienten im Alter zwischen 17 und 23 Jahren begonnen werden. Vorgesehen sind zunächst zwölf Plätze in der Kirchheimer Psychiatrie der Medius-Kliniken. Das einzige was bisher noch fehlt, ist grünes Licht vom Ministerium.

1 Der „Wegweiser Psychiatrie“ mit allen Hilfsangeboten und Kontakten findet sich unter www.landkreis-esslingen.de im Servicebereich.

Auf den Hund gekommen

Milo ist ein Kleinpudel und mit knapp zwei Jahren der jüngste Mitarbeiter der psychosomatischen Abteilung am Klinikum in Esslingen. Der aufgeweckte Vierbeiner mit dem kurz geschorenen Fell begleitet Ärzte und Therapeuten in Einzelgesprächen mit Patienten und gilt Menschen gegenüber als ausgesprochen einfühlsam.

Klinikmitarbeiter schwören auf seine heilsamen Kräfte, wenn es für Patienten darum geht, Spannungen zu lösen, Aggressionen abzu-bauen oder Emotionen zu zeigen. Milo arbeitet überwiegend mit Erwachsenen.

Sam heißt sein Pendant in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort muss man zurzeit allerdings ohne seine Dienste auskommen. Mit seiner trächtigen Partnerin ist er sozusagen in Elternzeit.bk