Zwischen Neckar und Alb
Missstände im Schlachthof angeprangert und gefeuert

Justizskandal Eine Tierärztin beim Veterinäramt nimmt es für ihre Vorgesetzten zu genau, wird gekündigt und zieht dagegen bis vor den Gerichtshof. Von Henrik Sauer

Katrin Pill verstand die Welt nicht mehr. Als amtliche Tierärztin machte sie doch nur ihre Arbeit. Von ihrem Arbeitgeber, dem Veterinäramt, war sie zur Überwachung der Hygiene- und Tierschutzstandards in einem Großschlachthof in der Region Stuttgart eingesetzt. Über die Zustände dort – und was sie schildert, klingt teilweise wirklich unglaublich – hat sie ihrem Vorgesetzten immer wieder berichtet. Der allerdings, so empfand sie es, wollte das alles gar nicht so genau hören. „Mir wurde gesagt, das sei eben ein Schlachthof, da solle ich nicht so ,phäb‘ sein.“

Das allerdings konnte die heute 51-Jährige mit ihrem Berufsethos nicht vereinbaren. Sie blieb hartnäckig und musste dafür auch einiges einstecken. Für die Schlachthofmitarbeiter war sie ein rotes Tuch. Sie berichtet von Sachbeschädigungen und tätlichen Angriffen. Einmal seien Fleischerhaken nach ihr geworfen worden. Auch eine Morddrohung habe sie bekommen, erzählt Katrin Pill. Als sie den Vorgesetzten deswegen um Hilfe bat, habe der ihr nicht geglaubt.

Sie legte eine Fachaufsichtsbeschwerde beim Regierungspräsidium ein. In der warf sie dem Veterinäramt vor, die Missstände im Schlachthof zu dulden und die Tierärzte nicht genügend zu unterstützen. Damit war das Tuch zwischen ihr und dem Arbeitgeber zerschnitten. Katrin Pill wurde zunächst in einen anderen Schlachthof versetzt und schließlich entlassen.

Zur Wahrheit gehört indes auch, dass mehrere Amtstierärzte sich durch Pills Äußerungen in ihrer Berufsehre gekränkt sahen. Nach deren Verständnis gab es keine Missstände in dem Schlachthof, sondern vielmehr eine überzogene Überwachungspraxis der amtlichen Tierärztin. „Die Hundertprozentigen sind meist nicht sehr beliebt“, sagt ihr Nürtinger Anwalt Jochen Leibold: „Aber es geht hier um die Einhaltung von fundamentalen Hygienevorschriften.“

Nach der Kündigung begann der Rechtsstreit. Und das, was ihr Anwalt als „Skandal“ bezeichnet: „Es kann nicht sein, dass jemandem, der Rechtes tut, die Stelle gekündigt wird.“ Zwar bestätigte das Landesarbeitsgericht ein erstinstanzliches Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart, dass die Kündigung rechtsunwirksam gewesen sei. Gleichwohl löste es den Arbeitsvertrag von Katrin Pill auf Antrag ihres Arbeitgebers gegen Zahlung einer Abfindung auf. Die Begründung: Sie habe dem Veterinäramt eine bewusste Irreführung der Verbraucher vorgeworfen, obwohl die Aufsichtsbehörde kein Fehlverhalten festgestellt habe. Damit habe sie den Bogen überspannt. Weiterhin habe sie ihrem Arbeitgeber schikanöses Verhalten ihr gegenüber vorgeworfen. Deshalb sei eine gedeihliche Zusammenarbeit nicht mehr zu erwarten.

Diese Argumentation bringt Anwalt Leibold noch immer auf die Palme: „Das Landesarbeitsgericht argumentierte, meine Einlassungen seien zu scharf formuliert gewesen. Damit hätte ich die Autorität des Amtsleiters untergraben. Anders gesagt: ich hätte mich vorsichtiger äußern sollen.“ Dabei habe seine Mandantin nur ihre Pflicht getan. „Das darf ihr nicht als Illoyalität ausgelegt werden“, wettert Leibold: „Außerdem geht es auch um das Wohl des Verbrauchers. Niemand möchte verunreinigtes Fleisch essen. Auf entsprechende Missstände muss man auch mit scharfen Worten hinweisen dürfen.“

Leibolds Beschwerden beim Bundesarbeitsgericht und beim Bundesverfassungsgericht wurden abgewiesen. Der Anwalt und seine Klientin zogen daraufhin vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Sie sahen sich in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung beeinträchtigt, ebenso in ihrem Recht auf ein faires Verfahren. „Ich wollte das nicht einfach so stehen lassen“, sagt Katrin Pill: „Ich bin nicht die erste Tierärztin, der so etwas passiert. Es ist immer das gleiche Spiel.“

Dass sich der EGMR der Sache annimmt, Leibold dann doch überrascht, wie er bekennt. „Nur zwei Prozent der Fälle werden überhaupt verhandelt“, sagt er. Doch im vergangenen September tat sich in der Sache etwas: Der EGMR schickte einen Fragenkatalog, an Leibold und an die Bundesrepublik Deutschland, die in einem solchen Fall der Vertragspartner der EU ist. Unter anderem wurde dort die Frage aufgeworfen, ob bei dem Urteil des Landesarbeitsgerichts berücksichtigt wurde, dass die Signalisierung der angeblichen Mängel im Schlachthof und des angeblichen Fehlverhaltens im Veterinäramt im öffentlichen Interesse lag. Aus dem Fragenkatalog sei bereits ersichtlich gewesen, in welche Richtung der EGMR tendiere, sagt Leibold.

Bundesregierung knickt ein

Das sah man offenbar auch im Bundesjustizministerium so. In einem Schreiben an den EGMR im Dezember teilt das Justizministerium mit, dass man „durch eine einseitige Erklärung“ anerkenne, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch das Urteil des Landesarbeitsgerichts eine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung darstelle, „sowohl für sich genommen als auch in Verbindung mit dem Recht auf ein faires Verfahren“.

Die Bundesregierung bot Katrin Pill eine Wiedergutmachung von 16 000 Euro an. Dem hat sie zugestimmt. Damit ist der Fall ohne ein Urteil abgeschlossen. „Normalerweise verteidigt das Justizministerium die Entscheidungen seiner Gerichte“, sagt Leibold. In dem Fall komme dies aber einem Rüffel für das Landesarbeitsgericht gleich. Die Erklärung der Bundesregierung werde nun auf der Homepage des EGMR veröffentlicht.

Deshalb können er und seine Mandantin auch ohne ein abschließendes Urteil mit dem Ausgang des Verfahrens leben, bekräftigt Leibold. Mit der Anerkenntnis einer Unrechtmäßigkeit sei die Sache eindeutig: „Das Gericht muss es nicht mehr entscheiden.“ So wie die Richter in Straßburg mit Arbeit eingedeckt seien, sei es ohnehin ein Erfolg, dass dieser Fall überhaupt angenommen worden sei.

Katrin Pill hat in der Zwischenzeit eine andere Arbeitsstelle bei einem anderen Arbeitgeber als Tierärztin angenommen. „Ich fühle mich sehr gut“, sagt sie nach dem acht Jahre andauernden Gerichts-Marathon. Es sei ihr eine große Genugtuung, „dass das Versagen des Gerichts nun an höchster Stelle dokumentiert wird“.