Zwischen Neckar und Alb
Obdachlose sind dem Virus schutzlos ausgeliefert

Pandemie Corona Hilfsorganisationen beklagen Lücken im System und hohe bürokratische Hürden. Menschen, die auf der Straße leben, fallen komplett durchs Impfraster. Von Thomas Schorradt

Die Impfkampagne nimmt Fahrt auf. Doch gerade die, die ohnehin am Rande der Gesellschaft stehen, dürfen häufig nicht mitfahren. Sei es, weil sie die bürokratischen Voraussetzungen für eine Impfung – Personalausweis, Krankenkassenkarte oder der Nachweis, zu einer berechtigten Gruppe zu gehören – nicht vorweisen können, sei es, weil sie auf der Straße leben und durch alle Raster fallen. „Die besonders gefährdete Gruppe von Menschen ohne jegliche Unterkunft und ohne Schutz einer eigenen Häuslichkeit kommen in den Impfplänen gar nicht vor“, beklagt Frieder Claus vom Esslinger Verein Heimstatt, der sich der Ärmsten der Armen annimmt.

 

Zuhause bleiben geht nicht, wenn man
kein Zuhause hat. Da wird allein das „Da-Sein“
schon zur Ordnungswidrigkeit.
Frieder Claus, Verein Heimstatt
 

Impfberechtigt sind derzeit nur Personen, die in einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe untergebracht oder dort beraten werden. Claus verweist auf eine aktuelle Erhebung der Liga der Wohlfahrtsverbände, wonach in Baden-Württemberg derzeit 770 Menschen völlig ohne Unterkunft seien. Weitere knapp 1000 Männer und Frauen hätten Unterschlupf bei Bekannten gefunden. „Die sind im Sinne der Verordnung ebenfalls von der bevorzugten Impfung ausgeschlossen“, sagt Claus. In Esslingen schätzt er die Zahl der Ausgeschlossen im niederen zweistelligen Bereich. „In einer Großstadt wie Stuttgart dürfte das schon anders aussehen“, so Claus.

Zugang alles andere als niederschwellig

Aber auch diejenigen Obdachlosen, die in Beratung und Unterkunft sind, stehen häufig vor beinahe unüberwindbaren Hürden – oder, wie Anja Wessels-Czerwinski sagt: „Der Zugang zu den Impfungen ist für unsere Klientel alles andere als niederschwellig.“ Als Leiterin der Esslinger Aufnahmehäuser und der Fachberatungsstelle für Obdachlose betreut sie übers Jahr gesehen rund 450 Menschen. „Zwei Drittel davon würde sich gerne so schnell wie möglich impfen lassen“, sagt sie. Aber allein einen verloren gegangenen Personalausweis zu beantragen, dauere mehrere Wochen. In solchen Fällen sind die Obdachlosen auf unbürokratische Hilfe angewiesen. „Wir haben einen Arzt, der einmal in der Woche mit einer ambulanten Praxis vorfährt. Der nimmt sich solcher Fälle dann an“, sagt Anja Wessels-Czerwinski. So seien von den 45 Personen, die derzeit im Esslinger Berberdorf oder im Aufnahmehaus in der Schlachthausstraße leben, mittlerweile etwa 30 geimpft. Von einer Infektion sind die Bewohner hier wie da bisher verschont geblieben – mit einer Ausnahme. „Bei nur einem Fall in einem Jahr muss man sagen, dass sich die Menschen hier in der Pandemie vorbildlich verhalten“, sagt Anja Wessels-Czerwinski.

Wenn allein das Da-Sein eine Ordnungswidrigkeit ist

In Nürtingen plagt sich ihr Kollege Harry Held mit ähnlichen Problemen. Immerhin können sich auch hier die Besucher des Tagestreffs in der ambulanten Arztpraxis impfen lassen. „Das ist eine große Hilfe, denn die einen haben kein Internet oder kein Telefon zur Anmeldung an den Impfzentren, die andere habe kein Geld für die Fahrt dorthin“, sagt Held. Hinzu komme, dass die Fachberatung der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart, die sowohl in Nürtingen als auch in Esslingen die Obdachlosenhilfe organisiert, ihre Klientel in den Zeiten der Kontaktbeschränkungen schlechter als sonst erreicht. „Normal kommen bis zu 35 Personen täglich in den Tagestreff. Jetzt geben wir nur rund 20 Essen to go durchs Fenster aus“, sagt Held.

Nicht allein die Kontaktbeschränkungen, auch die Ausgangssperren treffen die ohnehin Benachteiligten hart. „Wie soll sich einer, der keine Unterkunft hat, an die nächtliche Ausgangssperre halten. Zuhause bleiben geht nicht, wenn man kein Zuhause hat“, sagt Frieder Claus. Bei Ausgangssperren würden Obdachlose allein aufgrund ihres „Da-Seins“ eine Ordnungswidrigkeit begehen, sie könnten sich nicht ab 21 Uhr in Luft auflösen. Immerhin belasse es die Esslinger Stadtverwaltung bei Verstößen in diesen Fällen inzwischen bei einer Verwarnung. Andernfalls, so Claus, drohte ein Bußgeld im dreistelligen Bereich.

Keine Ausnahme beim Alkoholverbot

Beim Alkoholverbot im öffentlichen Raum dagegen gibt es keine Ausnahmen. Einerseits verständlich, sagt Claus. Andererseits aber wolle er den Aufstand in der bürgerlichen Gesellschaft nicht erleben, wenn den Menschen neben den Kontaktbeschränkungen zusätzlich zuhause auch noch ein monatelanges Alkoholverbot auferlegt würde.