Zwischen Neckar und Alb

Spaziergänge in die Unendlichkeit

Auszeichnung Die 98-jährige Hildegard Ruoff wirkt bis heute als Kulturvermittlerin in Nürtingen. Am Sonntag bekommt sie den Pfisterer-Preis überreicht. Von Elisabeth Maier

Hildegard Ruoff ist nicht nur Kunstexpertin, sondern auch sehr belesen. Foto: Andreas Kaier
Hildegard Ruoff ist nicht nur Kunstexpertin, sondern auch sehr belesen. Foto: Andreas Kaier

Ihr Leben hat Hildegard Ruoff der Kunst gewidmet. Als Fotografin fand die 98-Jährige ihr Medium, ihre Leidenschaft ist aber bis heute das Vermitteln. In einer Zeit, als abstrakte Kunst für viele fremd war, hat sie Brücken gebaut. Mit ihrem 1986 gestorbenen Mann Fritz, einem der bekanntesten Künstler der Region, hat sie viel für die Szene getan. Am 14. Januar erhält sie um 19 Uhr in der Köngener Zehntscheuer den Daniel-Pfisterer-Preis.

Mit ihrem Rollator bewegt sich Hildegard Ruoff leicht durch die Räume ihres Hauses in Nürtingen. Avantgardistische Kunst fasziniert die Seniorin bis heute. In den Räumen der Stiftung Ruoff zeigt die Kunstkennerin wechselnde Ausstellungen. Die gewerbliche Schule auf dem Säer ist nach ihrem Mann Fritz benannt. Neben dessen Werken sind da unter anderem Arbeiten befreundeter Künstler zu sehen. Bis 21. Januar ist die Schau „Das heilige Konkrete/Das konkret Heilige“ zu erleben. Skulpturen und die meditativen Bilder aus dem Nachlass sind da mit Arbeiten des 1998 in Esslingen gestorbenen Malers Anton Stankowski kombiniert.

„Beide haben einen ganz unterschiedlichen Zugang zur Abstraktion“, kommentiert Hildegard Ruoff die Werke. Fritz Ruoff hat sich vom abstrakten Expressionismus zu einer meditativen Kunst hin bewegt. Stankowskis „funktionelle Grafik“ nähert sich der Meditation ebenfalls an. Vor einem Bild des befreundeten Künstlers, das ins Ungewisse weist, bleibt die 98-Jährige stehen und hält inne. Strenge geometrische Formen ordnet der Maler zu einem bewegten Bild, das die Betrachter mitzureißen scheint. In der Mitte ist eine weiße Linie. „Das ist die Unendlichkeit“, sagt sie und lächelt. Bei dem Anblick spüre sie ganz deutlich, dass es hinter dem Horizont weitergeht.

Hinter die Fassade der realistischen Kunst zu blicken, hat Hildegard Ruoff auch als Fotografin gereizt. In ihrem Büro hängt ein Bild ihres Mannes, der im Nebel auf dem Säer spazieren geht. Das diffuse Licht taucht die verschwindend kleine Silhouette des Menschen in ein magisches Licht. In der Bildkomposition ist zu spüren, wie intensiv die Künstlerin ihre Wirklichkeit reflektiert. Trotzdem lebt die 98-Jährige im Hier und Jetzt. Liebevoll fällt ihr Blick auf den üppigen roten Weihnachtsstern, der in einem ihrer Töpfe sprießt. Dann zieht sie aus ihrer Fotomappe ein Bild, das kräftige, gelbe Blütenblätter einer Sonnenblume zeigt.

Positives Denken ist das Lebenselixier der Seniorin. Dass sie im hohen Alter gesundheitlich noch so fit ist, sieht sie als großes Geschenk. Das birgt für sie auch die Verantwortung, sich für andere einzusetzen: „Es ist unsere Pflicht, die Herausforderungen, die an uns gestellt werden, beherzt anzunehmen.“ Das hat Hildegard Ruoff immer getan. Eigentlich wollte sie studieren, „aber für uns Töchter hatte die Familie damals kein Geld“. Das bedauert die belesene Frau bis heute. Sie wollte Modedesignerin werden, doch in den Studios ihrer Wahl gab es keine Vakanzen. Im Stuttgarter Kunsthaus Schaller fand sie nicht nur einen Beruf, sondern die Berufung zur Kunst. Dort begegnete sie auch ihrem Mann Fritz.

Als einer der bedeutenden zeitgenössischen Künstler machte sich Ruoff einen Namen. Auch die Nürtinger Kunstmäzenin Auguste Pfänder wurde auf ihn aufmerksam. Sie bot dem Ehepaar an, in die oberen Räume ihres Hauses zu ziehen. Mit der Fabrikantengattin entwickelte sich eine Freundschaft, von der Hildegard Ruoff schwärmt.

Im Lederstuhl im oberen Stockwerk der Villa sitzt Hildegard Ruoff gerne am Fenster und liest. Lange hatte sie Probleme mit den Augen, Lesen war da unmöglich. „Das war schwer für mich.“ Von den Büchern ihres Freundes Peter Härtling über Friedrich Nietzsches Philosophie bis zu den kulturhistorischen Schriften Eckart Kleßmann interessiert sie vieles. Von deren Gedanken lässt sich die kluge Frau inspirieren. In den Räumen der Stiftung erleben Betrachter ein Jahrhundert Kulturgeschichte. Die charismatische Stifterin liebt es, im Gespräch lustvoll an frühere Epochen zu erinnern.