Zwischen Neckar und Alb

Theorie und Praxis

Reform Am Bildungscampus auf dem Nürtinger Säer geht man in der Pflegeausbildung neue Wege. Das Konzept hat viele Vorteile – aber auch Schwachstellen. Von Bernd Köble

Die Gesellschaft altert, an gut ausgebildeten Pflegekräften herrscht zunehmender Mangel.Symbolfoto
Die Gesellschaft altert, an gut ausgebildeten Pflegekräften herrscht zunehmender Mangel. Symbolfoto

Die Coronakrise hat der Welt vor Augen geführt, wer die wahren Helden sind. Selten standen Pflegekräfte in Heimen und Kliniken mehr im Rampenlicht, erhielten die, die sich um Hilfsbedürftige kümmern, mehr öffentliche Wertschätzung als in den vergangenen vier Wochen. Ein möglicher Effekt: Die Zahl der Auszubildenden steigt. Am Bildungscampus in Nürtingen, wo im Oktober die neue generalistische Ausbildung zur Pflegefachkraft in der Alten- und Krankenpflege beginnt, wird dies deutlich.

Rund die Hälfte mehr an Bewerbern stellen die Krankenpflegeschule der Medius-Kliniken und die Fritz-Ruoff-Schule als Berufsfachschule in der Altenpflege, vor die Entscheidung, ob man das gemeinsame Projekt mit drei statt der geplanten zwei Ausbildungskurse an den Start schicken soll. 60 Plätze waren geplant, inzwischen gibt es 30 zusätzliche Bewerber. In der Regel gehen Bewerbungen erst ein, wenn an den Realschulen die Prüfungen abgeschlossen sind. „Die beiden Kurse fürs neue Studium waren schon vor zwei Wochen so gut wie voll“, sagt Benjamin Richter, der den Bildungscampus auf dem Nürtinger Säer leitet.

Eigentlich ein Grund zum Jubeln, denn an Fachkräften in der Pflege herrscht überall akuter Mangel. Was der Gesetzgeber bei der Reform offenbar übersehen hat: Es fehlt sowohl an Ausbildungsplätzen für die Praxis als auch an Lehrpersonal.

Während der Bildungscampus in der Altenpflege mehr als 50 Ausbildungsbetriebe in der stationären und ambulanten Pflege unter Vertrag hat, ist das Nadelöhr in der praktischen Krankenpflegeausbildung die Pädiatrie, die Arbeit in der Kinderpflege. Der neue Ausbildungsgang soll die Pflege durchgängig in allen Altersbereichen abbilden. Deshalb ist dieser Baustein inzwischen Pflicht. Doch Kinderkliniken gibt es viel zu wenig im Land. Die Medius-Kliniken, die den praktischen Teil der Krankenpflegeausbildung im eigenen Haus anbieten, verfügen nur über eine Geburtshilfe. Das Klinikum in Esslingen, mit der einzigen Kinderklinik im Landkreis, betreibt eine eigene Krankenpflegeschule. Die Krankenhaus-Strukturreform der vergangenen Jahre hat dazu geführt, dass kleinere Häuser von der Bildfläche verschwunden sind, weniger rentable Abteilungen an vielen Orten geschlossen wurden. „Im Ausbildungsbereich bekommen wir das jetzt deutlich zu spüren“, sagt Benjamin Richter.

Was die Zahl der Lehrkräfte in der Pflege angeht, herrscht ebenfalls ein Mangel. Am Nürtinger Bildungscampus kümmern sich 17 hauptbeschäftigte Pädagogen um 220 Auszubildende. Damit ist Nürtingen noch vergleichsweise gut aufgestellt. Wollte man im Oktober mit einem dritten Kurs an den Start gehen, um auf die gestiegene Zahl an Bewerbungen zu reagieren, wäre das jedoch nicht ohne Weiteres möglich. Lehrkräfte sollen Berufserfahrung und einen Masterabschluss mitbringen. Doch davon gibt es viel zu wenig. Auch deshalb, weil die Absolventen der noch relativ jungen Master-Studiengänge in diesem Fachbereich erst allmählich auf den Markt drängen. Gemeinsam mit dem Regierungspräsidium und der Klinikleitung sei man im Moment auf der Suche nach einem Weg, die zusätzlichen Bewerber in Nürtingen dennoch aufzunehmen, sagt Richter.

Weil sich an den Fakten so schnell nichts ändern lässt, kann das nur heißen: Vorgaben lockern. Doch damit wird ein weiteres Problem sichtbar: In der zusammengeführten Ausbildung haben weiterhin zwei Ministerien das Sagen. Die Krankenpflege unterliegt dem Sozialministerium, die Altenpflege dem Kultusministerium. „Das führt nicht immer zu völliger Klarheit bei Verordnungen“, sagt Yvonne Thoma, Leiterin der Altenpflegeausbildung an der Fritz-Ruoff-Schule. So ist bis zur Stunde nicht geklärt, ob die schulische Ausbildung mit Beginn des neuen Schuljahres im September beginnen soll, wie es Wunsch des Kultusministeriums ist, oder zum Wintersemester der Krankenpflegeschulen am 1. Oktober.

Zwei Ausbildungen in einem Zug

Die neue Pflegeausbildung am Bildungscampus in Nürtingen führt ab Oktober die bisherige Alten- und Krankenpflege zusammen. Die dreijährige generalistische Ausbildung zur Pflegefachfrau oder zum Pflegefachmann findet als Gemeinschaftsprojekt der Fritz-Ruoff-Schule und der Krankenpflegeschule der Medius-Kliniken Nürtingen-Kirchheim in direkter Nachbarschaft auf dem Säer statt. Die neue Ausbildung enthält Praxisbausteine aus dem gesamten Pflegespektrum vom Krankenhaus über die stationären Pflegeeinrichtungen bis hin zu den ambulanten Pflegediensten.

Voraussetzung für die Ausbildung ist mindestens die Mittlere Reife oder ein Hauptschulabschluss mit zweijähriger Berufsausbildung. Die Ausbildung eröffnet weitere Aufstiegs- und Weiterbildungschancen: von Leitungsaufgaben in Kliniken oder Pflegeheimen bis zum Masterstudium.

Möglichkeit zur Bewerbung am Bildungscampus besteht noch bis 30. Juni. Der Ausbildungsvertrag für die praktische Ausbildung mit einer stationären oder ambulanten Pflegeeinrichtung kann dann entweder am 1. August oder 1. September beginnen.bk