Esslingen. Der Angeklagte wird immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt. Zur Sache möchte sich der 56-Jährige nicht äußern, aber über seine Biografie gibt er vor der Kammer des Landgerichts Stuttgart bereitwillig Auskunft. Dem Maschinenführer wird mehrfacher schwerer sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen.
Er soll sich im Zeitraum zwischen September 2016 und August 2019 an seiner 2009 geborenen, leiblichen Tochter in seiner Wohnung in Esslingen und in einem Ferienhaus in der Türkei vergangen haben. Staatsanwältin Sandra Zylla wirft ihm vor, das Kind mindestens 48 Mal zum Geschlechtsverkehr gezwungen zu haben. An diesem ersten Prozesstag wurde auch ein Video mit Aussagen des Opfers abgespielt - allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Er habe einen hilfsbereiten Charakter, und für ihn seien Menschlichkeit und gegenseitiger Respekt sehr wichtig, ließ der Angeklagte über einen Dolmetscher mitteilen. Ausführlich erzählte er von seinem Lebenslauf und zeichnete dabei ein Bild von instabilen Verhältnissen, fehlenden Bildungschancen, einer zerrütteten Ehe und psychischen Problemen. 1975 kam der Angeklagte aus der Türkei nach Deutschland. In seinem Heimatland hatte er die Schule abgebrochen, in Deutschland besuchte er eine Sprachen- und die Hauptschule. Einen Abschluss, so berichtete er, konnte er aber nicht machen. Sein Vater musste sich als Alleinverdiener um die vielköpfige Familie kümmern, darum habe er sich als ältester Sohn einen Job gesucht, um das Einkommen aufzubessern.
Mit seiner ersten Ehefrau zog er aus dem Bonner Raum ins Neckartal. Depressionen beider Partner, Streitereien über die Erziehung der Kinder hätten die Ehe zur Hölle werden lassen, was mit der Scheidung geendet habe. Danach habe er eine andere Frau kennengelernt, die er 2008 heiratete. 2009 kam die gemeinsame Tochter zur Welt. Er sei stolz auf das Mädchen gewesen, führte der Angeklagte aus. Er habe an ihr gut machen wollen, was er an seiner älteren Tochter aufgrund der zerrütteten Ehe versäumt habe. Und er habe davon geträumt, dass sie einmal in einem weißen Brautkleid heiraten werde. In seiner zweiten Ehe habe es Licht und Schatten gegeben, sagte der Angeklagte. Einerseits habe er sich mit seiner 16 Jahre jüngeren Ehefrau bestens verstanden und sie auch bei ihrem Studium unterstützt. Von seinem Gehalt habe er nur 400 Euro Taschengeld für sich behalten. Andererseits aber habe es Streit mit den Schwiegereltern und Zwistigkeiten mit seiner Partnerin gegeben - aufgrund der unterschiedlichen Charaktere der Eheleute.
Öffentlichkeit ausgeschlossen
Nach den Angaben des Angeklagten zur Person wollte Richterin Sina Weber eine Videoaufnahme mit Aussagen der Tochter des 56-Jährigen abspielen. Der Verteidiger stimmte dem zunächst nicht zu, da er Zweifel an der Glaubwürdigkeit hat. Deshalb beantragte er, die Einschätzung eines Sachverständigen einzuholen. Das Gericht entschied sich für einen „Mittelweg“, wie es Richterin Sina Weber ausdrückte: Das Video werde abgespielt. Sollte es der von der Verteidigung bestellte Sachverständige aber für nötig erachten, dann könne es zu einem späteren Zeitpunkt nochmals angeschaut werden. Während des Abspielens des Videos wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Das Video war von der Kammer in Auftrag gegeben worden, um dem Opfer eine Aussage vor Gericht zu ersparen. Das Mädchen sei zum Zeitpunkt der Aufnahme zehn Jahre alt gewesen. Da die Fragen in die Intimsphäre des Kindes eindringen, hat der Persönlichkeitsschutz der heute Elfjährigen in jedem Fall Vorrang vor dem Recht der Öffentlichkeit auf Information.
Weitere Verhandlungstage wurden vom Landgericht Stuttgart bereits festgesetzt und sind am Montag, 18. Januar sowie Mittwoch, 3., Montag, 8., und Mittwoch, 10. Februar. Simone Weiß