Zwischen Neckar und Alb

„Viele Frauen sind zurzeit gefangen“

Unterstützung Der Esslinger Verein „Frauen helfen Frauen“ rechnet mit einem starken Anstieg häuslicher Gewalt durch die Corona-Epidemie. Von Dagmar Weinberg

Freie Plätze im Esslinger Frauenhaus sind Mangelware. Durch die Coronakrise spitzt sich die Lage für Frauen und Kinder, die von
Freie Plätze im Esslinger Frauenhaus sind Mangelware. Durch die Coronakrise spitzt sich die Lage für Frauen und Kinder, die von Gewalt betroffen sind, weiter zu. Symbolfoto: Carsten Riedl

Der jungen Frau war es zwar gelungen, ihrem Peiniger zu entkommen, der sie geschlagen und am Kopf verletzt hatte. Und sie hat es geschafft, mit Gudrun Eichelmann von der Beratungsstelle des Vereins „Frauen helfen Frauen“ telefonisch Kontakt aufzunehmen. Der Weg ins Frauenhaus wird der Frau aber erst einmal versperrt bleiben. Denn in der Esslinger Zufluchtsstätte ist im Augenblick kein einziger Platz frei. Und auch die Häuser in der Umgebung sind komplett belegt. „In ganz Baden-Württemberg gibt es zurzeit null Plätze“, lautet die ernüchternde Bilanz der Diplom-Sozialpädagogin nach ihrem Telefon-Marathon. Die Nachricht ist nicht neu. „Wir hatten schon im vergangenen Jahr immer wieder die Situation, dass wir weder in Baden-Württemberg noch in Rheinland-Pfalz auch nur einen einzigen freien Platz in einem Frauenhaus zur Verfügung stellen konnten“, sagt Gudrun Eichelmann. „Doch die Corona-Epidemie treibt diese Problematik jetzt auf die Spitze.“

Das bestätigt ihre Kollegin Jessica Hemmer, die im Esslinger Frauenhaus arbeitet. Dort leben zurzeit auch Frauen, die sich dank der Unterstützung von Jessica Hemmer und ihren Kolleginnen so weit stabilisiert haben, dass sie gerne ausziehen würden. Sie haben sich auf die schwierige Suche nach einer Wohnung gemacht und sogar Glück gehabt. „Es wären jetzt Wohnungsbesichtigungen gewesen, aber die sind wegen Corona leider alle abgesagt worden.“ Somit wird in absehbarer Zeit wohl kein Platz frei werden.

Feiertage sorgen für Stress

Im Esslinger Frauenhaus sind die Bewohnerinnen und ihre Kinder zwar in Sicherheit. Unter den Ausgangsbeschränkungen sowie der Schließung von Kitas und Schulen leiden aber auch sie. „Denn bei uns geht es ja generell eng zu“, schildert Jessica Hemmer. „Und jetzt merken wir den Platzmangel besonders.“ Die Zimmer, in denen bis zu vier Personen leben, sind zwischen knapp 15 und 20 Quadratmeter groß. Auch die Gemeinschaftsräume - in denen natürlich wie im gesamten Haus die corona-bedingten Abstandsregeln gelten - sind nicht gerade üppig bemessen. „Wenn die Kinder dann die ganze Zeit zu Hause sind, ist das schon belastend“, weiß die Mitarbeiterin des Frauenhauses, die sich schwerpunktmäßig um die Kinder und deren Mütter kümmert. „Und jetzt können die Kinder ja auch nicht mehr zu ihren Freunden außerhalb gehen.“ Angesichts des begrenzten Platzangebots im Frauenhaus sind sie und ihre Kolleginnen „heilfroh, dass das Wetter im Augenblick so gut ist und wir einen so schönen Garten haben“. Denn dieser Freiraum trage zur Entspannung bei. „Das ist bei den derzeit bestehenden Einschränkungen sehr wichtig“, sagt Jessica Hemmer. „Denn Enge erzeugt viel Stress.“

Das weiß auch Gudrun Eichelmann aus ihrer täglichen Arbeit. So steigen in Esslingen nach Weihnachten, Ostern und anderen Feiertagen, an denen die Familie eng aufeinanderhockt, oft die Fälle von häuslicher Gewalt. „Wenn zu der Enge noch existenzielle Sorgen, etwa durch Kurzarbeit oder den Verlust des Arbeitsplatzes, hinzukommen, ist das Potenzial für häusliche Gewalt groß. Und je länger die Beschränkungen wegen Corona anhalten, desto mehr wird passieren“, prognostiziert sie. Dass bisher nicht allzu viele Hilferufe in der Beratungsstelle angekommen sind, führt die Sozialpädagogin darauf zurück, „dass die betroffenen Frauen kaum eine Gelegenheit haben, mit uns Kontakt aufzunehmen“. Denn viele Männer sind zurzeit zu Hause, sei es, dass sie im Home-Office arbeiten oder in Kurzarbeit geschickt worden sind.

Personell am Limit

Sobald die Beschränkungen gelockert werden „und die Männer wieder mehr aus dem Haus gehen dürfen“, rechnet Gudrun Eichelmann damit, „dass wir sehr viele Anfragen von Frauen bekommen werden“. Bis dahin müsse allerdings die Frage beantwortet werden, „wo die Frauen denn überhaupt hinkönnen“. Weil private Lösungen, etwa für ein paar Tage bei einer Freundin Zuflucht zu finden, wegen der Angst vor Ansteckung kaum in Betracht kämen, „kommt jetzt eine weitere Hürde hinzu“, verdeut­licht Gudrun Eichelmann.

Um kurzfristig reagieren zu können, ist der Verein „Frauen helfen Frauen“ auf die Stadt und den Landkreis zugegangen. „Wir sind im Augenblick in Verhandlungen darüber, ob wir von häuslicher Gewalt betroffene Frauen in Hotels oder Ferienwohnungen unterbringen können.“ Eine dauerhafte Lösung wäre das aber nicht. Denn die Frauen brauchen Beratung und Unterstützung, zum Beispiel bei Behördengängen oder in finanziellen und rechtlichen Fragen. Zudem sei die Frage, wie sicher die Frauen in derartigen Unterkünften überhaupt sind. „Für einen begrenzten Zeitraum könnten wir zwar ein paar Frauen zusätzlich betreuen“, sagt Gudrun Eichelmann. „Auf längere Sicht ist das aber keine Lösung. Denn wir sind personell am Limit.“