Zwischen Neckar und Alb

„Viele Wirte sind dem Wahnsinn nah“

Interview Holger Pirsch ist Chefredakteur des Varta-Führers für Hotels und Gaststätten. Der Gourmet-Experte gibt Auskunft über Aussichten guter Lokale, Testen in Corona-Zeiten und die Esslinger Diaspora.

Solche Szenen wünschen sich Wirte und Gäste zurück.  Archivfoto: Jean-Luc Jacques
Solche Szenen wünschen sich Wirte und Gäste zurück. Archivfoto: Jean-Luc Jacques
Anonymität ist das Gebot für die Tester des Varta-Führers um Chefredakteur Holger Pirsch. Foto: Lena Lux
Anonymität ist das Gebot für die Tester des Varta-Führers um Chefredakteur Holger Pirsch. Foto: Lena Lux

Der Varta-Guide gehört neben dem Michelin und dem Gault & Millau zu den großen Hotel- und Gaststättenführern. 1360 Seiten umfasst die aktuelle Ausgabe, die jetzt - vier Wochen später als üblich - erschienen ist. Die Corona-Krise hat auch die in Ostfildern ansässige Varta-Redaktion mit ihrem Team von Testern vor Herausforderungen gestellt. Mit Chefredakteur Holger Pirsch führte Gerd Schneider ein telefonisches Interview.

Wie viele Hotels und Restaurants haben Sie für Ihre neue Ausgabe getestet?

Holger Pirsch: Knapp 5000, das ist unsere Richtgröße. Für alle Betriebe, die im Führer genannt und bewertet werden, gibt es einen Prüfbericht. Also auch für diejenigen, bei denen wir die Bewertungen im Vergleich zum Vorjahr belassen haben.

Wie hoch ist die jährliche Fluktuation bei den Betrieben?

Pirsch: Wir haben aktuell 200 bis 250 Neuzugänge im Guide. Das hält sich ungefähr die Waage mit den Restaurants und Hotels, die nicht mehr existieren, weil ihre Betreiber insolvent sind oder aufgegeben haben. Bei 500 bis 700 Gastronomiebetrieben ändern sich die Bewertungen, das heißt, sie wurden im Vergleich zum Vorjahr auf- oder abgewertet.

Vor zwei Jahren sorgte der Fall des Köngener Restaurants Alte Vogtei für Aufsehen. Der Betreiber bekam von Ihrem Konkurrenten Michelin einen Stern, obwohl das Lokal längst geschlossen war. Was tun Sie, damit Ihnen so etwas nicht passiert?

Wir betreiben einen riesigen Aufwand, damit uns keine Schließungen entgehen. Alle bewerteten Betriebe werden von uns angeschrieben und kurz vor Redaktionsschluss noch einmal angerufen. Glücklicherweise hat es so einen Fall bei uns noch nicht gegeben. Aber ganz sicher kann man nie sein.

Wie schwierig war es für Sie und Ihre Tester, im Corona-Jahr Ihrer Arbeit nachzugehen?

2020 war das härteste und schwierigste Jahr, das wir bei Varta jemals durchlebt haben. Die Corona-Krise wird Spuren in der Gastronomieszene hinterlassen. Die Restaurants und Hotels, die gut gewirtschaftet und Reserven gebildet haben, werden überleben und vermutlich sogar gestärkt aus der Pandemie hervorgehen. Andere werden auf der Strecke bleiben. Und wir selbst hatten durch Corona viel weniger Zeit als sonst, um die Betriebe nach unserem Kriterienkatalog zu testen. Wir haben darüber nachgedacht, ob wir für ein Jahr pausieren sollen. Aber das kam für uns nicht in Frage. Auch deshalb, weil die Gastronomie gerade in so einer schwierigen Zeit eine wichtige Funktion hat.

Wie haben Sie es überhaupt geschafft, so viele Hotels und Gaststätten zu testen?

Wir hatten insofern Glück, dass ein wesentlicher Teil der Tests schon im letzten Quartal 2019 stattfand. Ende August ist Redaktionsschluss für unseren Führer. Wir hatten dann im Sommer nach dem Ende des Lockdowns noch einmal Hochbetrieb. Aber natürlich haben wir weniger geprüft als im Vorjahr. Zumal viele Betriebe auch nach dem Lockdown noch geschlossen blieben. Gerade kleinere Gourmetrestaurants sahen im Frühsommer keinen Sinn, angesichts der ungewissen Aussichten wieder zu öffnen. In unserem Führer weisen wir in diesen Fällen auf die corona-bedingten Schließungen hin. Manche Betriebe werden wohl ein ganzes Jahr geschlossen bleiben. Wenn sie überhaupt wieder den Betrieb aufnehmen.

In welcher Stimmung haben Sie die Hotel- und Lokalbetreiber angetroffen?

Ganz unterschiedlich. Viele waren trotz der Probleme und des Lockdowns positiv. Sie sehen in der Krise auch eine Chance. Manche nutzen diese Phase, um ihre Ausrichtung zu überdenken oder ihre Häuser zu renovieren. Dann gibt es aber auch viele andere, die extrem frustriert und dem Wahnsinn nah sind, weil ihnen die Einnahmen wegbrechen und sie die Pacht trotzdem aufbringen müssen.

Was bleibt überhaupt von der Gastronomie übrig, gerade mit Blick auf die anspruchsvollen Restaurants und Hotels?

Das weiß niemand. Ich fürchte, wir werden noch eine ganze Welle von Insolvenzen erleben. Aber es gibt ein Leben nach Corona. Und da sehe ich nicht schwarz. Gerade in Krisen werden Entwicklungen beschleunigt. Das Bewusstsein für gutes und hochwertiges Essen wie auch für hohe Hygiene-Standards wird weiter wachsen. Irgendwann werden wir wieder ein normales Leben führen. Gourmets wird es auch in Zukunft geben, eher mehr als weniger.

Dabei galten wir Deutschen kulinarisch lange als zurückgeblieben, gerade im Vergleich zu Frankreich und Italien.

Aber es hat sich viel getan. Im Jahr 2011 wurden in unserem Führer 250 Hotels und Restaurants als Varta-Tipps empfohlen. Heute sind es 450.

Wie wird man eigentlich Tester bei Ihnen?

Journalistische Kompetenz alleine reicht leider nicht. Alle unsere Tester haben eine fundierte Ausbildung in der Gastro-Branche und dort die Erfahrungen gesammelt, die man für diesen Job braucht. Unsere Anforderungen sind hoch.

Es gibt schlimmere Berufe, oder?

So einfach, wie viele sich das vorstellen, ist es nicht. Unsere Experten sind 35 bis 40 Wochen im Jahr alleine unterwegs, sie bleiben konsequent anonym und übernachten in Hotels. Sie müssen immer mit sich selbst klar kommen. Das liegt nicht jedem.

Sie können uns bestimmt erklären, warum der Kreis Esslingen für Feinschmecker Diaspora ist? Man schaut neidvoll auf eine Stadt wie Fellbach, wo es gleich vier hoch dekorierte Restaurants gibt.

In der Tat, in Fellbach scheint man alles richtig gemacht zu haben. Ich vermute, die Stadt profitiert auch davon, dass sie direktes Einzugsgebiet von Stuttgart ist.

Esslingen auch. Dort gibt es bei Ihnen eine einzige Erwähnung, das Posthörnle.

Zugegeben, das ist nicht viel. Schade. Aber das kann sich auch wieder ändern. Wir haben Esslingen jedenfalls nicht von der Landkarte gestrichen.

...