Zwischen Neckar und Alb

Wehrlose alte Frauen im Pflegeheim geschlagen

Prozess Altenpfleger wurde wegen Misshandlung Schutzbefohlener in Nürtingen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

Nürtingen. „Man kann sich nur wenige Taten vorstellen, die moralisch tiefer stehen.“ Richter Alexander Brost war bei aller beruflichen Distanz die Erschütterung über den Fall anzumerken, den ein Schöffengericht in Nürtingen zu verhandeln hatte: Ein Altenpfleger hatte schon vor knapp zwei Jahren Frauen, für die er verantwortlich war, geschlagen.

Die Tat, die im Gesetz als „Misshandlung Schutzbefohlener“ bezeichnet wird, hatte sich in einer Julinacht 2015 in einem Nürtinger Pflegeheim ereignet. Sie selbst stellte der heute 32-jährige Angeklagte auch gar nicht in Abrede: Ja, er sei an diesem Abend zu spät und alkoholisiert zum Nachtdienst erschienen. Ansprechbar sei er gewesen, an Details könne er sich aber nicht erinnern. Er wisse nur noch, dass er schon während des ersten Rundgangs Schläge verteilt habe: „Warum, weiß ich nicht, das muss eine Kurzschlusshandlung gewesen sein.“

Er sei oft mit Widerwillen zur Arbeit gegangen, der aus einer Mischung aus Unstimmigkeiten und Stress resultiert habe, bekannte der Angeklagte: Theoretisch habe er sieben Tage Nachtschicht schieben müssen und dann sieben Tage frei bekommen sollen. In der Praxis habe das nur selten funktioniert, da er auch immer wieder in einem anderen Heim desselben Trägers habe aushelfen müssen. Zudem habe er den gesamten Urlaub des Jahres 2014 nicht nehmen können. Eine Darstellung, die im Zeugenstand auch vom Geschäftsführer der Trägergesellschaft nicht grundlegend in Abrede gestellt wurde. Hinzu kommt, dass das Gesetz es für ausreichend erachtet, wenn ein Pfleger in der Nacht bis zu 49 Patienten betreut, wie die Pflegedienstleiterin als Zeugin erwähnte.

Zudem hatte der Pfleger aber auch bereits zwei Abmahnungen seines Arbeitgebers erhalten. Im Grunde drei - doch die dritte, die die Pflegedienstleiterin laut ihrer Aussage schon verfasst und an die Geschäftsleitung weitergeschickt hatte, versandete irgendwo.

„Neben der Spur“ sei er ihr an diesem Abend vorgekommen, berichtete die Frau weiter. Aber nicht betrunken: „Sonst hätte ich ihn weggeschickt - wie schon einmal.“ Auch die Kollegin, die den Angeklagten am nächsten Morgen ablöste, bemerkte nicht, dass er unter Alkohol stand. Die Übergabe sei sehr kurz gewesen.

Als sie freilich die Patienten aufgesucht habe, sei sie „einfach nur schockiert“ gewesen. Fünf Frauen hätten Hämatome aufgewiesen, eine davon sei zusätzlich mit dem Kopf im Erbrochenen gelegen: „Ich war komplett fertig. Ich bin seit 20 Jahren in der Pflege tätig, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Nachdem ich die Frauen gewaschen und versorgt habe, habe ich mich nur noch hingesetzt und geheult.“ Die Schläge seien zwar nicht mit roher Gewalt, aber mit mittlerer Intensität ausgeführt worden, sagte der Rechtsmediziner Professor Dr. Hans-Thomas Haffner als Gutachter: Aber auch die könnten bei alten Menschen gravierende Folgen haben.

Wichtig für die Urteilsfindung war aber auch die Frage, ob die Alkoholabhängigkeit des Angeklagten seine Schuldfähigkeit beeinträchtigt haben könnte. Davon ging die psychiatrische Gutachterin Heidi Gromann nicht aus: Wenn er tatsächlich schon eine Flasche Whisky intus gehabt habe, dann hätte man dies auch riechen und bemerken müssen.

Und so nahm ihm Staatsanwalt Matthias Schweizer auch nicht ab, dass er keine Erinnerung mehr an die Taten habe. Es sei auch keine Kurzschlusshandlung gewesen: „Zu der gehört auch immer ein Auslöser. Es war schlicht Frustabbau.“ Für den er eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten fordere. Verteidiger Boris Müller kam es in erster Linie darauf an, die Strafe auf höchstens zwei Jahre zu drücken, um eine Bewährung zu erreichen: Der Angeklagte habe sich strafrechtlich weder vorher noch nachher etwas zuschulden kommen lassen, es sei auch keine zielgerichtete Handlung gewesen: „Es war ihm alles scheißegal, er war am Ende.“

Das Schöffengericht war freilich weitgehend der Ansicht der Staatsanwaltschaft. Für solche Taten könne es einfach keine Bewährung geben: Die Beweisbilder seien „zum Herzzerbrechen“ gewesen, sagte Richter Brost: Gegen Menschen, die einfach in Würde ihre letzten Tage verbringen wollten, die Hand zu erheben - da gebe es nur wenig moralisch Tieferstehendes. Daher erkenne man auf eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten, die nicht zur Bewährung ausgesetzt werde, plus drei Jahre Berufsverbot. Vielleicht sehe das eine übergeordnete Instanz ja anders. Verteidiger Müller hatte in seinem Plädoyer einen Gang vors Landgericht angedeutet. Jürgen Gerrmann