Zwischen Neckar und Alb

Zu früh zu viel

Corona Im Esslinger Landratsamt verfolgt man mit Sorge das Infektionsgeschehen im Kreis. Die Zahl der neuen Fälle hat sich im August vorübergehend fast verzehnfacht. Von Bernd Köble

Der Pandemieverlauf im Kreis. Grafik: la
Der Pandemieverlauf im Kreis. Grafik: la

Wo die Paletten mit Schutzausrüstung für eine mögliche zweite Welle gebunkert sind, will er nicht verraten. Sollten Masken, Schutzkleidung und Infektionsmittel wie im Frühjahr erneut wie Gold gehandelt werden, wäre die Versuchung für Langfinger viel zu groß. Das Schweigegelübde des Esslinger Landrats Heinz Eininger zeigt zweierlei: Der Kreis hat aus der Krise gelernt und sich beizeiten gewappnet. Gleichzeitig ist die Furcht groß, dass die Pandemie im Herbst mit Macht zurückschlägt. Mangelnde Zurückhaltung bei privaten Feiern bereitet Eininger die größte Sorge. Daher sein Appell: „Es kommt jetzt auf jeden Einzelnen an.“

Bedenken, die nicht unberechtigt scheinen. Die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz - die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner - die nach wie vor als wichtigster Vergleichswert gilt, betrug vor drei Wochen hier im Kreis noch zwei. Gestern lag der Wert bei 15,9 nachdem er zu Beginn der Woche kurzzeitig an der Zwanziger-Marke gekratzt hatte. Zur Erinnerung: Bei 35 gilt die Vorwarnstufe, bei 50 der erneute Lockdown. Eininger bringt das Zahlengeschehen in einem knappen Satz auf den Punkt: Zu früh zu viel.

Wesentlicher Grund für den Anstieg ist erwartungsgemäß die Rückreisewelle von Urlaubern, die noch längst nicht abgeebbt ist. Sie macht laut Kreisverwaltung zurzeit 65 Prozent der Infiziertenzahlen aus. Mehr als ein Drittel davon sind junge Leute im Alter zwischen 21 und 30 Jahren. Der allergrößte Teil davon machte Urlaub in Ländern des Balkans, die größtenteils als Risikogebiet gelten. Erst weit dahinter reihen sich Reisende aus Spanien und Frank- reich ein, für die ebenfalls Reisewarnungen gelten. Was die zuständigen Stellen im Landratsamt beunruhigt: Die allermeisten der positiv Getesteten zeigten keine typischen Symptome.

Dass vor allem Jüngere das Virus neu einschleppen, könnte ein Grund sein, weshalb sich die steigenden Infektionszahlen in den Krankenhäusern bisher nicht bemerkbar machen. In den drei Medius-Kliniken in Kirchheim, Nürtingen und Ruit sind zurzeit nur fünf Covid-19-Patienten isoliert untergebracht. Nur einer davon muss künstlich beatmet werden. In den Krankenhäusern, wo seit Beginn der Pandemie im März Beatmungskapazitäten ausgebaut wurden, sind nach wie vor 30 Prozent dieser Plätze für Corona-Patienten reserviert. Für den Landrat heißt das: Die Kliniken sind auf eine zweite Infektionswelle gut vorbereitet. Was für ihn genauso wichtig ist: Der Regelbetrieb für alle anderen Patienten läuft gefahrlos ohne Einschränkungen. „Wir haben im Frühjahr, als uns das Geschehen völlig unvorbereitet traf, viel gelernt“, sagt Eininger.

Dennoch erinnert viel von dem, was Behörden und Medizinern im Moment Sorge bereitet, an den Beginn der Pandemie. Auch im Februar und März waren es vor allem junge Leute, die das Virus oft ohne Symptome aus Skigebieten einschleppten und so dafür sorgten, dass es hierzulande noch lange ruhig blieb, als Krankenhäuser in Italien bereits an Grenzen stießen. Im Kreis Esslingen wurden damals in Spitzenzeiten täglich bis zu 400 Verdachtspersonen in den beiden Corona-Abstrichzentren (CAZ) in Nürtingen und am Flughafen getestet. Am Montag dieser Woche lag die Zahl der Tests in Nürtingen - dem einzigen noch betriebenen CAZ im Kreis - bereits wieder bei 384. Die Mehrheit davon Reiserückkehrer, aber auch viele, die hier geblieben sind und über Symptome klagten. Tatsächlich infiziert waren in der ersten Wochenhälfte knapp drei Prozent der neu Getesteten. Bis maximal 1500 Proben pro Tag, so rechnet die Kreisverwaltung, seien möglich, sollte sich die Lage im Herbst zuspitzen. Dafür müsste allerdings das zweite Abstrichzentrum am Flughafen reaktiviert und zusätzliche Fahrspuren eingerichtet werden.

App spielt bisher keine Rolle

Was auffällt: Eine Warnung durch die Corona-App ist bisher in seltensten Fällen der Grund, weshalb sich Menschen testen lassen wollen. Von den 3668 Abstrichen in den vergangenen drei Wochen resultierten nur 13 aus einer App-Nachricht. „Die Quote ist verschwindend gering“, sagt der Esslinger Gesundheitsdezernent Christian Baron, ohne zu wissen, wie viele Personen im Kreis die App überhaupt nutzen. Das gilt auch für den Zugriff auf Gästelisten, wie sie Wirtshäuser zu führen verpflichtet sind. Bei der Recherche nach Personen, die Kontakt mit Infizierten hatten, kam erst einmal eine Gaststätte ins Spiel. Dabei habe man den Wirt gebeten, die betroffenen Personen selbst zu kontaktieren, heißt es aus dem Gesundheitsamt.

Ausstiegskarten müssen mühsam eingescannt werden

Weil der Landesflughafen auf Kreisgebiet liegt, ist das Esslinger Gesundheitsamt für die Datenerfassung von Reiserückkehrern zuständig. Am Flughafen in Leinfelden-Echterdingen müssen zurzeit pro Tag rund 2000 Ausstiegskarten von Flugpassagieren ausgewertet und an die jeweilig zuständigen Ortspolizeibehörden im ganzen Land weitergeleitet werden. Eine Arbeit, die die Mitarbeiter im Gesundheitsamt trotz Personalaufstockung und Sieben-Tage-Woche allein nicht leisten können. Aus dem ganzen Haus würden Helfer rekrutiert, heißt es aus dem Landratsamt in Esslingen. „Dafür bräuchten wir bis zu 30 Vollzeitstellen,“ sagt Landrat Heinz Eininger. „Für eine solche Aufgabe ist ein Gesundheitsamt nicht ausgestattet.“

Zurzeit unterstützen 14 Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr für insgesamt drei Wochen die Behörde. Was danach kommt, weiß im Moment niemand. Das Landratsamt in Esslingen ist auf diese Hilfe dringend angewiesen, braucht dafür aber grünes Licht vom Innenministerium. Das nämlich ist für alle zivilen Einsätze der Bundeswehr zuständig.

Ausstiegskarten aus Papier, die erst eingescannt werden müssen, sind der größte Zeitfaktor. 19 Helfer im Gesundheitsamt sind allein damit die ganze Woche über beschäftigt. „Wir brauchen schnellstmöglich ein elektronisches Meldesystem“, kritisiert Gesundheitsdezernent Christian Baron. Schließlich zähle bei Infektionen die Zeit. „Da muss es schnell gehen.“ bk