Zwischen Neckar und Alb

„Zwei plus“ für den Musterschüler

Soziales Der Landkreis schneidet mit seinem breiten Angebot erzieherischer Hilfen im landesweiten Vergleich gut ab. Experten rechnen damit, dass die Zahl hilfsbedürftiger Kinder in Zukunft steigt. Von Bernd Köble

Politik und Praxis: Ein Bewohner der Ziegelhütte zeigt den Kreisräten, wie aus einem Stamm ein Spaltblock wird.Foto: Carsten Rie
Politik und Praxis: Ein Bewohner der Ziegelhütte zeigt den Kreisräten, wie aus einem Stamm ein Spaltblock wird.Foto: Carsten Riedl

Armut, psychische Erkrankungen, Trennungen oder Suchtprobleme in Familien - Gründe, weshalb Erziehung und Entwicklung von Heranwachsenden scheitern, gibt es viele. Wo Eltern dem gleichgültig oder überfordert gegenüberstehen, springt der Staat mit einem Bündel an Hilfen ein. Mehr als 40 Millionen Euro sind im Kreis Esslingen im laufenden Haushalt für erzieherische Hilfen eingeplant. Das ist fast ein Fünftel der gesamten Sozialausgaben, die 98 Prozent der Einnahmen durch die Kreisumlage verschlingen. Geld, das gut angelegt ist, weil es sich langfristig rechnet. Das geht aus dem umfangreichen Sozialbericht hervor, den der Kreis gestern zum zweiten Mal vorgelegt hat.

Die Spirale aus Vernachlässigung, Verzweiflung, Depression bis hin zu Suizidgedanken haben jugendliche Bewohner der Ziegelhütte am Randecker Maar in einem Filmprojekt verankert. Die Jugendhilfeeinrichtung bei Ochsenwang war neben Wächterheim und Janusz-Korczak-Schule der Stiftung Tragwerk in Kirchheim gestern dritte Station auf einer Info-Tour von Sozialpolitikern des Kreistags. Mit ihrer praktischen Ergänzung des Schulalltags durch Handwerk, Landwirtschaft und Kunst geht die Ziegelhütte andere, ungewöhnliche Wege. Der zehnminütige Streifen „Absprung,“ der in der dortigen Kreativ-Werkstatt entstand, zeigt, wie tief Kinder und Jugendliche fallen können, wenn der Halt in Familie, Freundeskreis und Schule fehlt. Ein starkes Stück Selbstreflexion, das auch Politiker für einen Moment sprachlos macht.

„Schauen, wo wir stehen. Schauen, wie Dinge umgesetzt werden“ - Für den Esslinger Landrat Heinz Eininger und seine Entourage sind Exkursionen wie die gestrige auch Entscheidungshilfe und Bestätigung, dass man sozialpolitisch auf dem richtigen Weg ist. Mit elf Erziehungshilfestationen steht der Landkreis Esslingen landesweit an der Spitze. Das Gesamtpaket der Kinder- und Jugendhilfe reicht von der Regel-Kita im Kirchheimer Wächterheim über die „Schule am Heim“ der Janusz-Korczak-Schule bis zu den Kreativangeboten von Ziegelhütte und Michaelshof. Sämtliche Einrichtungen sind eng vernetzt mit sozialen Diensten in den Kommunen, mit Schulsozialarbeitern und einer Vielzahl an Beratungsstellen.

Ein engmaschiges Netz ambulanter Hilfen statt teurer Heimunterbringung, mit diesem Konzept und einer mustergültigen offenen Jugendarbeit ist der Landkreis seit Jahren erfolgreich unterwegs. Für Sozialwissenschaftler wie Ulrich Bürger vom Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS) ist dies ein Grund, weshalb sich der Kreis trotz hoher Bevölkerungsdichte und urbanem Charakter landesweit im unteren Drittel bewegt, was die Zahl der stationären Hilfen betrifft. Bürger berät Landkreise und Kommunen bei der Sozialplanung und er stellt dem Esslinger Kreis ein Zeugnis aus, das Landrat Heinz Eininger mit der Note „Zwei plus“ übersetzt. Während die Gesamtzahl der erzieherischen Hilfen in Baden-Württemberg zwischen 2011 und 2017 um fünf Prozent zugelegt hat, ist sie im Kreis Esslingen um zwölf Prozent gesunken. Auch bei den Pro-Kopf-Ausgaben liegt der Kreis im Vergleich mit allen 44 Stadt- und Landkreisen in Baden-Württemberg im unteren Drittel.

Dass das nicht so bleiben muss, machte Bürger gestern im Sozialausschuss deutlich, der anlässlich der 1250-Jahr-Feier der Stadt Weilheim in der Limburghalle stattfand. Das Armutsrisiko steigt - auch im reichen Südwesten - ebenso wie die Zahl psychischer Erkrankungen. Die Wahrscheinlichkeit, im Heim zu landen, ist für Kinder aus armutsbelasteten Familien um das 22-fache höher. „Viele Lehrer wissen zudem nicht, dass der Knirps, der zu spät zum Unterricht kommt, zuvor seine psychisch kranke Mutter geweckt und die drei Geschwister versorgt hat,“ sagt Ulrich Bürger.

Auch die zunehmende Brüchigkeit familiärer Strukturen deutet darauf hin, dass die Not wächst. Jedes zwölfte Kind in der stationären Erziehungshilfe stammt aus Familien mit einem Stiefelternteil. Umgekehrt ist die klassische Familie allein kein Garant für eine unbeschwerte Kindheit. „Die traditionelle Familie,“ stellt Bürger, klar „ist oft ein Unheilsort.“

Trends und Prognosen, die als Ratgeber verstanden werden müssen, um für zusätzliches Personal zu werben, denn daran hapert es. Mit 0,79 Vollzeitkräften pro tausend Kreisbewohnern unter 21 Jahren bewegt sich der Kreis „auf dünnem Eis,“ wie der Sozialwissenschaftler betont. Eine Botschaft, die längst angekommen ist, doch der Fachkräftemangel macht auch vor dem Sozialbereich nicht halt. Hoher Konkurrenzdruck im Ballungsraum, Abwerbungen und rasante Fluktuation führten dazu, dass Stellen häufig nicht zu besetzen seien. sagt Landrat Heinz Eininger, betont jedoch: „Das Thema ist erkannt.“

Kreistag auf der Ziegelhütte & Michaelshof Begehung Hendrik van Woudenberg
Kreistag auf der Ziegelhütte & Michaelshof Begehung Hendrik van Woudenberg