Der 4. Juni 1961 war ein Sonntag und Premierentag. Erstmals strahlte die ARD im sendereigenen zweiten Programm die „Sportschau“ mit Ernst Huberty als Moderator aus – Punkt 17.45 Uhr bekamen die Fußballfreunde, ohne es im Geringsten zu ahnen, eine (spätere) Kultsendung serviert. Doch längst nicht jeder bekam die Sportschau auch zu sehen. In neun von zehn bundesdeutschen Fernseh-Haushalten blieb die Mattscheibe an diesem Abend schwarz, weil es am notwendigen Fernseh-Zubehör fehlte. UHF-Teil und Zusatzantenne waren noch teurer Luxus – für viele unbezahlbar. Neun Wochen nach der verpassten Sportschau wartete auf die Fußballinteressierten der Region der nächste sportliche Aufreger. Diesmal allerdings war der Gesprächsstoff vergleichsweise „kleiner“ Fußball – das erste Teckbotenpokal-Endspiel auf dem TG-Platz. Doch die Partie zwischen den Vorrundensiegern TSV Weilheim und TSV Notzingen mobilisierte schließlich stolze 500 Zuschauer, und mancher Familienvater erschien an diesem Sonntagnachmittag standesbeswusst mit Anzug und Krawatte. Es war ein sportlicher Festtag, und jede Menge Spannung lag in der Luft.
Anders als bei der Sportschau verpassten die Gucker nach dem Anpfiff keine Minute: Die Partie zwischen den Nachbarschaftsrivalen verlief 90 Minuten lang ohne längere Unterbrechungen. Die Weilheimer, ob ihrer B-Klassen-Zugehörigkeit gegenüber den Notzinger C-Klassisten klar favorisiert, siegten durch Treffer von Mittelstürmer Werner Heilemann und Erich Knorr mit 4:2, für die tapfer kämpfenden Notzinger trafen Werner Strauß und Stephan. Bei Halbzeit stand es 1:1, und in strittigen Spielszenen wurde es nach dem Seitenwechsel jedes Mal exorbitant laut, weil partout keiner verlieren wollte. „Die Fußball-Zuschauer von damals waren viel fanatischer als jene von heute“, erinnert sich Hans Sehr (79), der beim Premieren-Endspiel als Notzinger Abteilungsleiter an der Seitenlinie stand.
Es war eine echte Nervenschlacht, die über den Rasen ging. „Die Zuschauer brauchten ihr Kommen nicht zu bereuen“, berichtete der Teckbote damals.
Es war der 6. August 1961. Schiedsrichter der ersten Final-Partie war Peter Steigele, der in Deutschlands höchster Spielklasse pfiff – der Oberliga. Zwei Jahre nach dem Teckbotenpokal-Finale erhielt der Mann aus Frickenhausen vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) den höchsten Ritterschlag, den ein Schiedsrichter auf nationaler Ebene erhalten konnte: Als einer der Ersten wurde Steigele für Spiele der neu gegründeten Bundesliga eingeteilt. Anstatt nach Karlsruhe oder Fürth fuhr er zum Pfeifen nun nach München, Köln oder Hamburg und kassierte vom Verband 24 Mark pro Einsatztag nebst Anreise-, Verpflegungs- und Übernachtungskosten. Über 4 000 Spiele hat der 82-Jährige bis heute geleitet, darunter auch internationale Ländervergleiche. Steigele hat sich zeitlebens fit gehalten. Derzeit lebt er zusammen mit Ehefrau Maria (80) und leitet noch immer Jugendspiele in der Kreisstaffel. Einziger Ehrenschiedsrichter des Fußballbezirks Neckar/Fils ist er auch.
Steigele, der sich noch vage an das Kirchheimer Endspiel erinnert („ich glaube, ich bekam 8 Mark fürs Pfeifen“), war im rötlich schimmernden DKW an die Jesinger Allee angereist – und hatte dafür viele neugierige Blicke geerntet. Denn als Pkw-Fahrer zählte er zu den Privilegierten im Endspiel-Umfeld. Genauso wie der Weilheimer Fußballer Erich Knorr. Der Oberbayer aus Schrobenhausen war nicht nur der einzige Nicht-Weilheimer im damaligen TSVW-Team der Eigengewächse, sondern auch der einzige Autobesitzer. „Außer Knorr fuhr keiner meiner damaligen Mannschaftskameraden ein Auto“, berichtet Werner Heilemann, der Mittelstürmer, über die für jüngere Jahrgänge fast unglaubliche Zeit. Der Mann, dem mit dem 1:0-Treffer nach 17 Minuten das erste Endspiel-Tor in der 51-jährigen Teckbotenpokal-Geschichte gelang, rätselt über die genaue Final-Anreise bis heute. „Keine Ahnung, wie wir damals von Weilheim nach Kirchheim kamen. Die Erinnerung ist einfach weg.“ Vier Optionen gab es für sie an jenem Tag: Entweder sie fuhren mit dem Fahrrad, dem Bus oder der Bahn – oder sie kamen per 11-Kilometer-Fußmarsch zum Zielort.
Die Weilheimer waren damals eine eingeschworene Truppe: Jeder ging den Schilderungen zufolge für den anderen durchs Feuer. „Die Kameradschaft wurde bei uns groß geschrieben“, blickt Andreas Friess mit leuchtenden Augen zurück. Der heute 76-Jährige spielte im damals üblichen 2-3-5-System den „Halbrechten“ – hängende Spitze würde man heute sagen. Auch für Friess, dessen Sohn Günther der aktuelle sportliche Leiter der Fußballabteilung ist, war es damals ein ganz besonderer Tag. Man wollte im ersten Turnierendspiel alles, bloß nicht verlieren.
In den 90 Minuten beharkten sich die Kontrahenten so lange, bis schließlich der Favorit gewonnen hatte. Es war ein Sieg der „besseren Kondition“, schrieb danach der Teckbote, „die Weilheimer hatten zweifellos das bessere technische Spiel. Die Notzinger glichen dies durch ihren Einsatz aus.“ Lob im Zweispalter, der anstatt mit Bild mit lustiger Schwarz-weiß-Vignette erschien, gab es auch für den Schiedsrichter. „Steigele brachte das Spiel gut über die Zeit“, hieß es im Text. Wie anschließend gefeiert wurde, verriet der Schreiber aus Rücksichtnahme auf die Privatsphäre mit keiner Silbe: Auch journalistisch tickten die Uhren damals anders.
Wie die Stimmung am Endspieltag war, hat Hans Sehr noch in guter Erinnerung. „Für unsere Mannschaft war es ein ganz besonderer Tag“, versichert er. Schon Tage vorher sei das Endspiel in Spielerkreisen das große Thema gewesen – vielleicht das wichtigste Thema überhaupt. Sieg, Ehre und der neu gestiftete Wanderpokal lockten schließlich – und auch noch der ein oder andere Kasten Bier, den fußballvernarrte Geschäftsleute aus dem Ort bei wichtigen Erfolgen damals zu spendieren pflegten. Umgekehrt setzte es von streng autoritär geprägten Trainern nach derben Niederlagen für die Spieler schon mal eine Tracht Prügel – in verbaler Hinsicht. Hans Sehr: „Einer unserer Trainer hat bei einer Mannschaftsbesprechung die Spieler einmal so laut kritisiert, dass sogar die Gäste im Vereinsheim mithören konnten.“ Die Wortwahl bei der Schelte („Ihr Sturm war ein laues Lüftchen!“) mag aus heutiger Sicht lustig klingen, damals galt sie nahezu als Höchststrafe.
Die Zeiten waren anders: härter, autoritärer, beim Fußball hoch emotional. Und dass die Notzinger ihre Endspielniederlage mehr wurmte als die verpasste Sportschau sechs Wochen zuvor, ist anzunehmen.