Kirchheim. Ein Stück Papier, das aus dem Faxgerät ratterte, brachte am Montag die Bombe zum Platzen. Abgeschickt in Hagen in der Geschäftstelle des Deutschen Basketball-Bundes. Dorthin hatten die Knights wie jedes Jahr üblich schon vor Wochen die Lizenzanträge für die neuen Spieler geschickt. Am Montag nun die überraschende Nachricht: Für Ziyed Chennoufi bestehe keine Freigabe. Der Grund: Der 23-Jährige hat offenbar einen gültigen Zweijahresvertrag beim tunesischen Erstligisten Etoile Sportive Du Sahel, der noch bis Saisonende 2013 läuft. Für jeden, dem dies unglaublich erscheinen sollte, lag eine Kopie des Kontrakts gleich bei.
Als Chennoufi am Montagabend telefonisch nicht zu erreichen war und auch am Dienstag im Training unentschuldigt fehlte, wurde aus schleichender Besorgnis allmählich Gewissheit. Der Deutsch-Tunesier hat sich quasi über Nacht nach Nordafrika abgesetzt, wie eine SMS bestätigt, die er an seine Ludwigsburger Freundin verschickte. Besonders pikant: Am Montag hatte er in der Geschäftsstelle der Knights noch um einen Gehaltsvorschuss gebeten und diesen auch bar auf die Hand erhalten. Zunächst fehlte auch vom Dienstfahrzeug des Spielers jede Spur. Erst gestern konnten zwei Mitarbeiter der Knights-Geschäftsstelle das Auto nach zweistündiger Suche in einem Parkhaus am Stuttgarter Flughafen ausfindig machen.
Ob es sich um eine Kurzschlussreaktion handelt oder von langer Hand geplant war, weiß keiner. Fakt ist: Der Sohn tunesischer Einwanderer, der in Westfalen geboren wurde und die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, spielte von Januar bis zum Saisonende bei jenem Klub, der im Urlaubsparadies Sousse an der tunesischen Mittelmeeküste beheimatet ist. Weil Chennoufi derzeit ohne eigenen Agenten und in Kirchheim kein Unbekannter ist, wurde im Frühsommer direkt mit ihm über eine Rückkehr unter die Teck verhandelt. Damals hieß es, der Vertrag in Tunesien wurde aufgelöst, nachdem der dortige Klub mit zwei Monatsgehältern in Rückstand geraten sei. Inzwischen weiß man: Zumindest der erste Teil der Geschichte ist falsch. Ein starkes Stück, das an einen ähnlichen Fall erinnert: Fast auf den Tag genau vor einem Jahr verschwand bei den Walter Tigers in Tübingen Center und Publikumsliebling Kenny Williams über Nacht spurlos. Der 26-Jährige US-Amerikaner war wenige Tage vor Saisonstart ohne Vorankündigung in seine Heimat zurückgekehrt, nicht ohne vorher ebenfalls um einen Gehaltsvorschuss zu bitten.
Für die Knights ist der Fall Chennoufi ein Schlag ins Kontor: sportlich wie menschlich. Letzteres vor allem für seinen langjährigen Mentor Frenkie Ignjatovic, der dem äußerst sensiblen und von persönlichen Krisen begleiteten Schützling als Ratgeber und Vertrauter zur Seite stand und der von dessen Riesentalent stets überzeugt war. „Ich weiß nicht, ob ich wütend sein oder Mitleid haben soll“, sagt Ignjatovic. „Auf jeden Fall ist es eine Enttäuschung, für die es keine rationalen Gründe gibt“, sagt der Coach. Im Trainingslager in Österreich vor wenigen Wochen haben beide unter vier Augen intensive Gespräche geführt, in denen es um Chennoufis persönliche und sportliche Ziele ging.
Tatsächlich war dessen bisherige Karriere von ständigen Rückschlägen begleitet. Nach zwei Jugend-Europameisterschaften für Deutschland und einigen Zweitligaeinsätzen für Brandt Hagen kam Chennoufi im Frühsommer 2008 zum Erstligisten nach Ludwigsburg. Als Kooperationsspieler brachte er es in seiner ersten Saison in der Pro A auf 30 Einsätze im Knights-Trikot. Zwei Bandscheibenvorfälle in Folge verhinderten damals den Beginn einer aussichtsreichen Karriere in der BBL. Ludwigsburg löste den Vertrag auf, die Ärzte rieten dazu, die Basketballschuhe an den Nagel zu hängen. Doch Chennoufi kam nach fast zweijähriger Zwangspause zurück und legte in Tunesien einen Glanzstart hin. Mit Etoile Du Sahel, wo er erst im Januar 2012 einstieg, holte er Meisterschaft und Pokal und feierte im Nationaldress den Gewinn des Afrikacups. Im Frühsommer dann der erneute Wechsel nach Kirchheim, wo der 23-Jährige die komplette Vorbereitung bestritt.
In der Geschäftsstelle der Knights, wo gestern die schriftliche Kündigung an Chennoufis bisherige Wohnadresse in Ludwigsburg verschickt wurde, zieht man nun auch rechtliche Schritte in Erwägung. „Der entstandene Schaden ist schwer zu fassen“, hält Knights-Sprecherin Bettina Schmauder die Erfolgsaussichten für gering. In der ohnehin turbulenten Phase kurz vor Saisonstart hat die unverhoffte Räuberpistole den Fahrplan jedenfalls gehörig durcheinander gewirbelt. Den zweifellos größten Schaden haben Mannschaft und Trainer zu tragen. Am Sonntag um 17 Uhr muss Ignjatovic in der Karlsruher Europahalle eine schlagkräftige Mannschaft aufs Spielfeld schicken. Nach dem Ausfall von Dominik Schneider, der mit anhaltenden Knieproblemen erneut zwei Wochen pausieren muss, wiegt die Causa Chennoufi nun besonders schwer, denn allmählich gehen den Kirchheimern die Deutschen aus. Sebastian Adeberg, der sich am vergangenen Samstag beim Sieg in Leitershofen am Daumen der linken Hand verletzte, scheint immerhin einsatzbereit zu sein. Genauso wie Kapitän Radi Tomasevic nach einer Oberschenkelprellung. „Wären beide ausgefallen, hätten wir über eine Spielabsage oder zumindest über eine Verlegung nachdenken müssen,“ beschreibt der Coach die Realität.
Statt sich auf die bevorstehende Woche konzentrieren zu können mit den beiden schweren Auswärtsspielen in Karlsruhe und Chemnitz und dem Heimauftakt am Mittwoch gegen den NBC, muss nun mit Hochdruck nach Ersatz für Chennoufi gesucht werden, der bis Montag noch als Glücksgriff galt. Ein schwieriger Spagat. Der deutsche Spielermarkt ist abgegrast, was verfügbar ist, kostet entsprechend Geld. Kandidaten gibt es, aber noch keine offiziellen Namen. Ignjatovic bleibt am Ende nur die Flucht in Galgenhumor: „Ich dachte, ich hätte in diesem Job schon alles erlebt“, sagt er. „Schön, dass man nie auslernt.“