Das Abenteuer Paralympics kann losgehen: Mit ihren 15 Jahren ist Linn Kazmaier aus Lenningen das Küken im deutschen Team bei den Paralympics, die am morgigen Freitag in Peking mit der Eröffnungsfeier beginnen. Die sehbeeinträchtigte Skilangläuferin und Biathletin von der Skizunft Römerstein will ihre Premiere auf olympischer Bühne genießen – und eine Wette gegen ihre Mutter gewinnen.
25 Stunden vom Beladen des Mannschaftsfahrzeugs in Freiburg bis zum Entladen des Shuttlebusses in Zhangjiakou mussten vergehen, bis Linn Kazmaier und ihr Guide Florian Baumann (Skizunft Uhingen) das erste Abenteuer bei ihrer Paralympics-Premiere überstanden hatten: die Anreise, inklusive virtueller Verabschiedung durch den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier am Frankfurter Flughafen und negativem PCR-Test nach der Landung in Peking. Spätestens bei der Ankunft im Paralympischen Dorf in der Zhangjiakou Zone wurden die Dimensionen des bevorstehenden Events unübersehbar. „Es ist total verrückt. Das ist kein Dorf mehr, das ist eine richtige Stadt“, sagt Linn Kazmaier.
Am Sonntag ging es für die deutschen Athletinnen und Athleten erstmals im Training auf die Strecken, auf denen von kommendem Samstag an je drei Para-Langlauf- und Biathlon-Einzelwettbewerbe und – zum Abschluss der Paralympics – die Langlauf-Staffel-Rennen stattfinden werden. „Der Schnee war weniger stumpf als erwartet und die Strecke ist sehr schön. Da ist alles drin, was man sich wünscht“, lautete Kazmaiers Urteil. Womit konstatiert werden kann: Es ist alles angerichtet für eine spannende Zeit.
Ihren Startplatz für die Paralympics hatte sich die 15-Jährige im Januar bei den Para-Schneesport-Weltmeisterschaften im norwegischen Lillehammer verdient. Zweimal Platz sechs im Para-Biathlon sprang dort für sie heraus, jeweils als beste Nicht-Russin im Teilnehmerfeld. Platz neun im ersten Rennen über zehn Kilometer im klassischen Langlauf war aber die noch wichtigere Erfahrung für Linn. „Die Bedingungen waren schwer und die Strecke anspruchsvoll. Was ich da mitgenommen habe, ist: Ich komme auch dann zurecht, wenn es etwas herausfordernder ist“, sagt sie.
Die Liebe zum Komplexen
Im Vorbereitungstrainingslager für die Paralympics lag ihr Fokus auf dem technisch sauberen Laufen und an den Schießzeiten. Linn Kazmaier liebt die Komplexität des Biathlons – am Berg an die Grenzen zu gehen, sich in der Abfahrt zu erholen und dann vor dem Schießstand den tobenden Puls herunterzupegeln, um möglichst fehlerfrei zu bleiben. Letzteres gehört noch ein wenig zu ihren Schwächen. Ihr Motto für Peking lautet deshalb: „No net hudla“. Für alle Nichtschwaben: Übersetzt heißt das so viel wie „Nur keine Hektik“.
Und das generelle Ziel? „Hauptsächlich weitere gute Erfahrungen sammeln“, verrät sie. Wenn die Leistung für ein Top-Acht-Ergebnis reichen würde, wäre es umso schöner. Dann, so hat sie es mit ihrer Mutter Gabi vereinbart, muss die Mama eine Stadionrunde im Hürdenlauf absolvieren. Freilich, Wette hin oder her: Erwartungen lasten keine auf ihr. „Sie kann völlig ohne Druck auflaufen. Es ist schon sensationell, dass wir überhaupt hier sind“, sagt Florian Baumann, der eine wichtige Rolle in ihrer Entwicklung spielt. Es ist unübersehbar, dass die Chemie zwischen beiden passt. „Florian ist ein guter Motivator. Er sorgt dafür, dass ich vor den Kuppen Gas gebe. In der letzten Runde hört man ihn im Live-Stream selbst dann schreien, wenn gerade andere Athletinnen im Bild sind“, berichtet Linn Kazmaier lachend.
Auch für den 20-Jährigen aus Balzholz, der selbst als Biathlet auf nationaler Ebene und bei Alpencups aktiv war, ist die Teilnahme an den Paralympics ein Riesenerlebnis. Schon die WM in Lillehammer empfand er als „ziemlich cool“, Peking ist noch eine Nummer größer. Und die Premiere soll für das Duo nicht das letzte Großereignis bleiben. Seit September besucht Linn Kazmaier das Sportinternat in Freiburg. Die Abstände zur Konkurrenz – allen voran zur herausragenden Russin Vera Khlyzova – sollen kontinuierlich schwinden. „Um so gut wie sie zu werden, muss ich noch an Kraft zulegen“, sagt die Lenningerin – und lässt keinen Zweifel an ihrem Willen zur Anstrengung. Die Paralympics 2022 könnten ein Vorgeschmack auf die Zukunft werden.