Radsportler sind hart im Nehmen und doch sind Wehklagen ihnen nicht völlig fremd. Dass es an Nachwuchs mangelt, dass es kaum noch lokale Rennen gibt oder sich Geldgeber populäreren Sportarten zuwenden. Früher war nicht alles besser, aber manches gut, und so stößt man noch heute auf Begeisterung, wenn von einer Veranstaltung die Rede ist, die es seit sieben Jahren nicht mehr gibt.
Alleenring-Rennen, Großer Preis von Volksbank und Kreissparkasse, GP Kirchheim oder Lightweight-Cup – Namen hatte das Spektakel viele, eines war immer gleich: Der Radsport lockte in Kirchheims guter Stube die Massen an die Strecke. Bis zu 15 000 Zuschauer waren es in besten Zeiten, die damaligen Stars wie Steffen Wesemann, Stefan Schumacher oder auch dem Kirchheimer Lokalheroen Lado Fumic zugejubelt haben.
Daran mag sich auch Kirchheims Bürgermeister Günter Riemer erinnert haben, als im Oktober der Vorschlag kam, den erkalteten Ofen wieder anzuheizen. Hinter der Idee stehen zwei Namen, die den Radsport im Blut haben. Jannik Steimle, Profi im weltweit erfolgreichsten Team von Quick-Step, beschäftigt es schon lange, dass sein Sport in der Region nur noch eine Nebenrolle spielt. Das Kirchheimer Rennen wiederzubeleben, sagt er, sei eine Herzensangelegenheit.
Mit Jürgen Wastl, der mit „Passione Bici“ in Kirchheim einen exklusiven Radshop betreibt und seine Leidenschaft buchstäblich zum Geschäftsmodell entwickelt hat, fand Steimle einen begeisterten Mitstreiter. Beide kennen sich schon lange. Wenn Steimle zu Hause Trainingsrunden dreht, schaut er in Wastls Kaffeebar auf einen Espresso vorbei. Aus der gemeinsamen Idee ist mehr geworden, und inzwischen steht der Termin: Am 2. Juli, einem Samstag, soll das Rennen auf dem Kurs der bisher letzten Auflage im Mai 2014 steigen – als stimmungsvolle Abendveranstaltung. Start und Ziel waren damals mitten in der Altstadt auf Höhe des Marktplatzes.
„Wo findet man heute noch so einen Kurs vor so einer Kulisse und das zur Primetime?“, sagt Jannik Steimle, der es inzwischen gewohnt ist, in radsportverrückten Gegenden wie in Flandern von Massen angefeuert um den Sieg zu fahren. Weil auch er klein angefangen hat und das alles noch nicht lange her ist, kennt er die Szene im Amateurbereich. Er weiß, dass sich dort viele bis heute gerne an Kirchheim erinnern.
In welchem Format das Rennen zurückkehren soll, ist noch offen. Als sicher gilt: Steimle wird selbst auf die Strecke gehen und versuchen, dem einen oder anderen Teamkollegen bei Quick-Step einen Start schmackhaft zu machen. Ansonsten liegt der Fokus auf der deutschen Amateur-Elite. Geplant ist, das Rennen später auch für den Nachwuchs zu öffnen. Schließlich sind die Gelegenheiten, sich vor Publikum zu zeigen, im Südwesten begrenzt. Für Steimle ist klar: Das Rennen muss wachsen. „Wir dürfen am Anfang nicht zu viel wollen. Ziel ist es, die Veranstaltung bis in ein paar Jahren so zu etablieren, dass sie deutschlandweit eine Rolle spielt.“
Die Aufgabe lässt sich im doppelten Wortsinn als sportlich bezeichnen. Die Frist bis zum 2. Juli ist knapp bemessen, um aus dem Nichts ein Rennen auf die Beine zu stellen. Der Termin kam als einziger infrage, weil er in den eng gesteckten Rennkalender Steimles passt. Für den beginnt die neue Saison schon am kommenden Dienstag auf der arabischen Halbinsel mit der fünftägigen Saudi-Tour. Im Mai wird er zum ersten Mal in Italien beim Giro am Start stehen. Nach seinem Debüt bei der Vuelta vor zwei Jahren ist es die zweite Teilnahme an einer der drei großen Rundfahrten. Ende August wartet ein weiterer Saisonhöhepunkt. Dann ist Stuttgart Schauplatz des großen Finales der fünftägigen Deutschland-Tour.
Für Steimles Mitstreiter Jürgen Wastl ist der selbstgesteckte Zeitplan bis Juli straff, aber realistisch. Es werde jetzt darauf ankommen, alle Kontakte, die man habe, zu nutzen und die Fäden zusammenzuführen, sagt der 58-Jährige. Seit zwei Wochen laufen erste Verhandlungen mit Sponsoren, am kommenden Montag ist ein Treffen mit Vertretern der Stadt geplant. Spätestens Ende Februar soll auch ein Verein gegründet sein, ohne den die Veranstaltung nicht möglich ist.
Viel Zuspruch von allen Seiten
Mit Günter Riemer, dem Beigeordneten der Stadt, haben die Initiatoren einen überzeugten Fürsprecher. Riemer war jahrelang Präsident des Württembergischen Radsportverbands und Wastls Trainer, als der in den Achtzigerjahren noch selbst Junioren-Rennen bestritt. „Das Rennen war immer ein wichtiger Faktor bei der Belebung der Stadt“, meint Riemer. Auch er kann bestätigen, dass Kirchheim bei vielen, die mit Radsport zu tun haben, in guter Erinnerung geblieben ist. Der Zuspruch sei von allen Seiten groß. Das zeitliche Risiko bleibt. „Es wäre schön, wenn’s klappt“, sagt Kirchheims Bürgermeister. „Für die Stadt, aber vor allem für den Sport.“
Zeitreise: Die Geschichte des Kirchheimer Radrennens
1985: Im Gewerbegebiet Bohnau findet unter der Regie des RKV Kirchheim und seinem Rennleiter Roland Geiger das erste Kirchheimer Radrennen um den Großen Preis der Volksbank statt. Zugnummer in den Anfangsjahren ist eine Frau: Die Stuttgarterin Sandra Schumacher, Olympia-Dritte von 1984, gewinnt die vierte Auflage des Rennens.
1989: Das Rennen zieht erstmals um in die Kirchheimer Innenstadt und erlebt mit 4000 Zuschauern einen neuen Publikumsrekord. Erster Sieger auf dem Alleenring ist der österreichische B-Amateur Josef Lontscharitsch aus Lustenau.
2000: Das Kirchheimer Rad-Kriterium geht erstmals als Großer Preis der Kreissparkasse an den Start.
2002: Mit Renn-Organisator Johannes Dornhofer beginnt die Zeit der großen Namen auf dem Alleenring. Der Etat wächst auf 30 000 Euro. Den Sieg holt sich Telekom-Profi Steffen Wesemann.
2006: Das Rennen steht auf dem Höhepunkt und ein vielfacher deutscher Meister mischt mit: Mountainbike-Profi Lado Fumic wird neuer Veranstalter, der den GP Kirchheim zum zweitägigen Spektakel mit einem MTB-Sprint am Samstag ausbaut. Am Sonntag gewinnt Gerolsteiner-Profi Stefan Schumacher vor rund 15 000 Zuschauern entlang der Strecke. Lokalmatador Lado Fumic wird Zweiter.
2007: Albert Bosler wird neuer Rennchef. Der Radsport steckt nach dem Ausschluss von 58 Profis im Vorjahr bei der Tour de France wegen Dopings tief in der Krise. In den Folgejahren bestimmen auf dem Alleenring wieder die Amateur-Teams das Geschehen.
2009: Das 25. Rennen wird zum denkwürdigen Jubiläum für den RKV als Ausrichter, der unter finanziell schwierigen Bedingungen sein 100-jähriges Bestehen feiert.
2010: Erstmals gibt es kein Rennen in Kirchheim. Dem Veranstalter mangelt es an Sponsoren.
2011: Der GP Kirchheim kehrt als „Lightweight-Cup“ mit Unterstützung eines Radausstatters und mit neuem Konzept zurück. Veranstalter bleibt Albert Bosler mit seinem neu gegründeten Verein Radsport Kirchheim (RSK).
2015: Albert Bosler kündigt seinen Rückzug als Rennchef an. Das Rennen wird ausgesetzt – Zukunft ungewiss.
2022: Das Comeback nach sieben Jahren?