Es war das spektakulärste VfL-Handballspiel aller Zeiten. Am 2. Mai 1982 empfingen die Kirchheimer den Bundesligisten Bayer Leverkusen im Achtelfinale des DHB-Pokals – und machten die mit 850 Zuschauern randvoll besetzte Walter-Jacob-Halle zum Tollhaus. 18:19 hieß es nach einer grandiosen Aufholjagd – zur absoluten Sensation fehlte nicht viel.
Thomas PfeIffer
Kirchheim. An die Tage und Wochen vor dem großen Sonntags-Spiel erinnert sich Otto Höfle (63) noch genau. Nachdem den Kirchheimern mit Erstligist Bayer Leverkusen bei der Auslosung ein echter Knüller beschert worden war, sollten bald die Kassen klingeln. Vorher klingelte beim VfL-Abteilungsleiter Handball öfters das Telefon. Fans, Sponsoren, Nachbarvereine – alle elektrisierte das Match, und alle wollten von Höfle im Vorfeld etwas, meistens eine Platzreservierung. Dass die Kirchheimer Oberligamannschaft seinerzeit in Bestform und die klare Nummer eins der Teckregion war, erhöhte die allgemeine Nachfrage: Im Verlauf des DHB-Pokalwettbewerbs 1981/82 hatte der HVW-Pokalfinalist erst Regionalligist Tempelhof Berlin (22:15) und danach Zweitbundesligist BSV 92 Berlin (23:19) aus dem Weg geräumt. „Gegen Leverkusen haben wir in die Walter-Jacob-Halle an Zuschauern reingepfercht, was machbar war“, erinnert sich Höfle knapp 32 Jahre danach. Schuld daran war der „gewaltige Hype“, der sich um das Spiel laut dem damaligen VfL-Torhüter Joachim Stiebler (57) entfachte.
Nachdem angespielt war, entwickelte sich eine Partie mit zwei völlig unterschiedlichen Halbzeiten. Wild entschlossene Leverkusener, die offenkundig keine Zitterpartie und negative Schlagzeilen wollten, trafen gegen viel zu passive Kirchheimer Underdogs fast nach Belieben und führten bei Halbzeit 11:5. Das ungleiche Duell schien nahezu entschieden, und viele VfL-Zuschauer schritten reichlich desillusioniert zum Verzehr des wurstbelegten Pausenbrötchens. Derweil regierte in der VfL-Kabine der Frust – auch bei Stiebler, der im Tor turnusgemäß von Hans-Dieter Rogulj vertreten worden war. „Über den Drei-Klassen-Unterschied, den die erste Halbzeit brachte, haben wir uns alle ziemlich geärgert“, sagte Stiebler. Beim Ärger blieb es damals nicht – es folgten harte Konsequenzen.
Doch es war nicht der offizielle VfL-Trainer Jürgen Lauter, der Jungspielern wie Peter Preller, Thomas Wald oder Dirk Weber jetzt taktische Verhaltensregeln inklusive einer Art Blamagen-Vermeidungsprogramm mit auf den Weg gab, sondern dessen rechte Hand Enrico Wackershauser. Der war damals 27 und nach einem unglücklich verlaufenen Bundesliga-Abstecher zu Frisch Auf Göppingen an die alte Wirkungsstätte zurückgekehrt. Jetzt setzte er die taktische Kirchheimer Defensiv-Grundordnung außer Kraft. Drei „linientreue“ VfL-Spieler, davor drei „Abfangjäger“ mit dem Spezialauftrag, möglichst viele Bayer-Bälle abzufangen und Tempogegenstöße einzuleiten – mit dieser ebenso offensiven wie riskanten Aufstellungsvariante erwischte Wackershauser den Bundesliga-Hinterbänkler in der Schlussphase tatsächlich auf dem falschen Fuß.
Und so avancierten die letzten 20 Spielminuten gegen Bayer Leverkusen für die VfL-Handballfans zum größten Aufreger aller Zeiten. „Jungs, wir haben nichts mehr zu verlieren“, hatte Wackershauser seinen Mitstreitern zuvor eingeimpft – tatsächlich spielten sie danach, als ob sie die Partie noch drehen könnten. Hoch konzentriert bis in die Fußspitzen, erzielten sie nach 10:18-Rückstand ein Tor nach dem anderen, und vier davon fielen wie erhofft durch Tempogegenstöße. 16:18 stand es plötzlich, die Halle tobte, und bei Bayer ging nichts mehr, da war nur noch Angst vor dem Pokaldesaster. „Ein beschissenes Spiel“, kommentierte Leverkusens Trainer Zlatar Siric („wir machten 20 bis 25 technische Fehler“) später.
Davor kämpften die Kirchheimer wie die Löwen und hätten durch einen Kempa-Trick Sekunden vor dem Ende fast noch den Ausgleich erzielt – die Herzklopf-Phasen, die Otto Höfle immer wieder während des Pokalkrimis ereilten, hielten bis zur Schlusssirene an. Letztlich verpassten die Kirchheimer eine ausgewachsene Handballsensation nur um Haaresbreite – für keinen der VfL-Protagonisten gab‘s einen Grund zum Jammern, auch wenn Rico Wackershauser „unsere zu spät begonnene Aufholjagd“ monierte.
Unterm Strich überwogen letztlich die Erfolgserlebnisse. Die VfL-Mannschaft hätte mit einem Fast-Paukenschlag auf nationaler Ebene für Furore sorgen können, in die Vereinskassen floss die Rekordeinnahme von 5000 Mark, VfL-Topscorer Simon Potucek hatte sechs Treffer gegen einen Bundesligisten erzielt und Otto Höfle, Kirchheims Handball-Macher, konnte nach dem Spiel das erste Rundfunk-Interview seiner Laufbahn geben.