Lokalsport
Die Fieberkurve bei Jannik Steimle steigt

Radsport Mit dem Startschuss für die Frühjahrsklassiker in Belgien und Frankreich beginnt für den Weilheimer an diesem Samstag die Jagd nach einem neuen Vertrag bei Soudal Quick-Step. Von Bernd Köble

Fünfte Jahreszeit auf andere Art: Was für die Jecken am Rhein der Karneval, ist für die Radsportfans in Belgien und dem Norden Frankreichs die Saison der Frühjahrsklassiker. Und den Radsport liebt dort fast jeder. Das sind Wochen, in denen Orte mit Namen wie Oudenaarde, Geraardsbergen oder Arenberg zu mythischen Freiluft-Theatern werden. In denen Fans zu Hundertausenden die Straßen säumen, ihren Sport und ihre Idole feiern und das Bier in Strömen fließt. Jahr für Jahr und nicht selten seit mehr als einem Jahrhundert.

Am Samstag geht‘s los und ein Weilheimer steckt mittendrin. Im Trikot der Lokalmatadoren von Soudal Quick-Step gilt es beim Auftaktrennen Omloop Het Nieuwsblad nicht nur die belgische Volksseele zu beglücken. Für Jannik Steimle ist es der Beginn einer langen Serie von Eintagesrennen, dem er seit Monaten entgegenfiebert. Ab Samstag reiht sich ein Termin an den nächsten. Zehn sind es insgesamt bis zur Woche der Entscheidung, wenn ab 2. April mit der Flandern-Rundfahrt und eine Woche später bei Paris-Roubaix zwei der prestigeträchtigsten Titel im Weltradsport vergeben werden. Es ist ein Frühjahr, in dem er alles mitnimmt. Das komplette Programm und damit auch das Vertrauen der sportlichen Leitung. Ein Frühjahr, in dem er hofft, dass er zum ersten Mal seit drei Jahren verletzungsfrei ans Ziel kommt. Das Ziel heißt auch: ein neuer Vertrag im Team von Patrick Lefevere.

So einiges wurde in den vergangenen Monaten über das viele Jahre beste Team im Straßenradsport geredet. Über den Bruch mit Traditionen, über einen Paradigmenwechsel. Weg vom dominierenden Klassiker-Team, hin zu einer Rundfahrt-Equipe um den neuen Superstar Remco Evenepoel, der den zweifachen Weltmeister Julian Alaphilippe (30) als Leitfigur ablösen soll. Seit Evenepoels überragender Saison mit WM-Titel und Vuelta-Triumph wird der 23-jährige Belgier bereits als der kommende Tour-Sieger gefeiert. Die Frage wird also sein, welches Personal es dafür braucht, wieviel Geld das alles kostet und welche Rolle Jannik Steimle in diesen Planungen spielt. Abgerechnet wird im Sommer, rund um den wichtigsten Renntermin, die Tour de France. Für Steimle gilt: Vielleicht auch schon früher. „Wenn ich am Samstag bei Omloop gewinne,“ meint er scherzhaft, „dann habe ich am Sonntag eine Unterschrift.“ Sorgen macht er sich keine. Er sieht seine Position im Team deutlich gefestigt.

Die Währung im Sport heißt Leistung. Dass die stimmt, dafür hat er zuletzt alles getan. Zwei Wochen Trainingslager bei ungewohnt kaltem Wetter in den Bergen der spanischen Costa Blanca. Täglich 13 Stunden unterm Höhenzelt, um die Sauerstoffaufnahme des Blutes zu verbessern. Zuletzt eine Woche Heimtraining bei herrlichstem Wetter auf der Alb. Alles für das eine Ziel: Anfang April auf dem Leistungsgipfel zu stehen und dort drei Wochen auch zu bleiben. Die Herausforderung dabei: Die lange Reihe der Halbklassiker im März dienen weiterhin dem Formaufbau. Gleichzeitig sind genau das jene Rennen, in denen seine größte Chance liegt, die einjährige Durststrecke ohne Rennsieg zu beenden. Das erfordert ein ausgeprägtes Gespür für die richtige Balance. Körner sparen, wo es geht, aber kompromisslos zuschlagen, wenn sich die Chance bietet. Die wirklich heiße Phase beginnt am 15. März mit Nokere Koerse. Jannik Steimle nennt es Gedächtnisrennen, weil dort vor zwei Jahren alle seine Träume an einem flandrischen Lattenzaun zerschellten. Nach mehreren Knochenbrüchen war die Klassiker-Saison beendet und er konnte von Glück reden, dass für seine Karriere nicht schon früh dasselbe galt.

Steimle ist keiner, der lange hadert und keiner, der Pech als Ausrede gelten lässt. Er hat sich einfach wieder aufs Rad gesetzt und kam schneller zurück, als das die meisten erwarteten. Seinen Ruf als ehrlicher und harter Arbeiter im Team, als einer auf den man sich im Rennen blind verlassen kann, hat er sich mühsam erkämpft. Jetzt hofft er, dass diese Arbeit, dieser Respekt, den er genießt, sich endlich auszahlt. Eigene Hoffnungen und Erwartungsdruck von außen – beides war nie größer. Letztes Jahr noch stand er bei den ganz großen Rennen als Debütant auf der Longlist. Das heißt: Drecksarbeit erledigen, knallharte Kilometer mit der Nase immer im Wind. Seine Leistungswerte sind nicht schlechter als die eines Yves Lampaert oder Florian Senechal. Allerdings: Die Frage, ob man ein Rennen von vorne fährt oder fürs Finale Kräfte sparen kann, macht Erfolge aus. Dazu kommt ein Faktor, der sich nicht in Watt oder Laktatwerten erfassen lässt: Erfahrung.

Welcher Fahrer im Rennen die Teamtaktik bestimmt, entscheidet sich meist kurz vor dem Start, nicht selten auch erst während des Rennens. Am Samstag sieht es so aus, als wäre Davide Ballerini der Mann, den es bei Quick-Step am Ende abzuliefern gilt. Der 28-jährige Italiener hat das Rennen vor zwei Jahren gewonnen. Doch wie immer gilt: Über die Chefrolle entscheiden die Beine an diesem einen Tag, und Jannik Steimle meint: „Mal schauen, wer ganz zum Schluss noch dabei sein wird.“