Lokalsport
„Ein Sport, den man spüren kann“

Parasport Thomas Schuwje gehört zu Deutschlands besten Spielern im Rollstuhl-Rugby. Bei den World Games in den USA holte der 38-jährige Oberlenninger nun die Bronzemedaille. Von Max Pradler

Wenn Thomas Schuwje die ganze Geschichte erzählen soll, fängt er damit an, wie ihm im Mai 2007 in Nürtingen die Vorfahrt genommen wurde. Der damals 23-jährige Landesligakicker und leidenschaftliche Motorradfahrer hat keine Chance zu reagieren, zieht sich neben drei gebrochenen Halswirbeln schwerste innere Verletzungen zu. Dass er den heftigen Crash überhaupt überlebt, grenzt an ein Wunder – wenngleich dieser Tag sein Leben für immer verändern sollte. Thomas Schuwje ist von diesem Augenblick an querschnittsgelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen.

Zugleich jedoch war es der Beginn einer beeindruckenden Karriere im Rollstuhl-Rugby, denn mittlerweile zählt der 38-jährige Oberlenninger zur internationalen Elite der paralympischen Variante des Rugbysports. Erst kürzlich holte er mit dem deutschen Nationalteam bei den World Games – dem wichtigsten Wettbewerb der nicht-olympischen Sportarten – in Birmingham (Alabama) die Bronzemedaille. Nach drei Siegen aus fünf Spielen in der Vorrunde bezwang das deutsche Mixed-Team im Spiel um Platz drei Kanada deutlich mit 44:30.

Wie ehrgeizig Thomas Schuwje ist, zeigt sein Resümee nach der intensiven Woche mit sechs Partien in vier Tagen: „Das Finale wäre auf jeden Fall drin gewesen, aber wir hatten leider etwas Pech mit der Auslosung.“ Nichtsdestotrotz gestalteten sich die World Games für den Leistungssportler als erstes Highlight seit der Pandemie. „Rollstuhl-Rugby ist in Nordamerika extrem populär. Es macht jedes Mal riesig Spaß, dort zu spielen“, freut sich Schuwje.

Mit der Bronzemedaille hatte das Rugby-Team zudem maßgeblichen Anteil daran, dass sich Deutschland erstmals seit 1993 wieder den ersten Platz in der Nationenwertung der World Games sichern konnte. Insgesamt warem in Birmingham rund 3600 Teilnehmer in 34 nicht-olympischen und paralympischen Sportarten an den Start gegangen. Rollstuhl-Rugby war als Demo-Wettbewerb Bestandteil der World Games und wurde für Athleten mit größeren Einschränkungen angeboten – den sogenannten Low-Pointern.

Ein neuer Anker im Leben

Doch wie kam es überhaupt dazu, dass ein alter Rehasport zur wichtigsten Nebensache der Welt wachsen kann? Für Thomas Schuwje brannte dieses Feuer schon früh. Bereits während seines elfmonatigen Aufenthalts in der Tübinger Uniklinik gibt ihm zusätzlich zu seinem familiären Umfeld vor allem eines besonders viel Kraft: das Rollstuhl-Rugby. „Das Sportlerherz hat mich auch in dieser Zeit nie verlassen. Für mich war klar, dass ich mir schnell eine neue Herausforderung suche“, blickt der zweifache Familienvater zurück. Manchmal müssen die großen Geschichten eben hinter den kleinen verschwinden, sonst wird das Leben zu schwer. Sport ist dazu da, um ihn ernst zu nehmen. Um dafür auch den wahren Ernst ein bisschen leichter nehmen zu können. Rollstuhl-Rugby ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich Menschen, die vom Schicksal getroffen werden, einen neuen Anker im Leben setzen können.

Durch Zufall über einen Sportlehrer an der Uniklinik auf die Sportart gekommen, beeindruckt sie ihn vom ersten Tag an. „Ich kam donnerstags aus dem Krankenhaus und war direkt am darauffolgenden Dienstag das erste Mal im Training“, erinnert sich Schuwje. Für sogenannte Tet­raplegiker wie ihn, die an allen vier Gliedmaßen gelähmt sind, ist Rollstuhl-Rugby der einzig mögliche Mannschaftssport. „Beim Basketball musst du gezielt werfen und fangen können, das geht bei mir nicht. Außerdem dürfen beim Rollstuhl-Basketball auch Gehende mitspielen, die sich für die Sportart in den Rollstuhl setzen. Im Rugby sind die Regeln deutlich strenger“, erklärt er. Hier dürfen nur Spielerinnen und Spieler ran, die an mindestens drei Gliedmaßen eingeschränkt sind.

Ziel ist es, den Ball über die gegnerische Torlinie zu fahren. Dabei darf geworfen, gedribbelt, gepasst oder die Kugel auf dem Schoß transportiert werden – das geht selbst mit eingeschränkter Motorik ganz gut. Doch mit technischer Finesse allein ist es nicht getan, auch knallharte Zweikämpfe und Mann-gegen-Mann-Duelle kommen bei der taktisch geprägten Sportart keineswegs zu kurz. „Wenn man ungebremst mit 15 bis 20 Stundenkilometern aufeinander kracht, hat das teilweise was von Autoscooter fahren“, scherzt Schuwje. Wer die Finger nicht schnell genug vom Rad bekommt, dem drohen schwere Verletzungen. Aber auch Schultern, Arme und Nacken bekommen aufgrund der schnellen Tempo- und Richtungswechsel einiges an Belastung ab. „Viele Athleten sind dazu gekommen, weil sie mit ihren tauben Beinen und Fingern einen Sport machen wollten, den sie spüren können.“

Um Blessuren vorzubeugen, stemmen die Athleten in ihrer Freizeit deshalb regelmäßig Gewichte. Das Mannschaftstraining hingegen ist in erster Linie für die vielen komplexen Spielzüge da, die dann im besten Fall während einer Partie miteinander verknüpft werden, um den Gegner vor Probleme zu stellen. Bei seinem Stammverein, den Sportfreunden Illerrieden, steht jeden Dienstag Mannschaftstraining auf dem Programm. Weil Thomas Schuwje das nicht reicht, legt er freitags zusätzlich individuell eine Schicht in Fellbach ein.

Bloß nicht hängen lassen

Sein Schicksal nimmt der 38-Jährige mit der nötigen Portion Leichtigkeit und mit jeder Menge Lebensmut – ohne dabei zu verbergen, dass es in der Zeit nach seinem Unfall auch andere Tage gab. „Für mich war klar: Ich kann mich noch bewegen und die körperlichen Fähigkeiten, die ich noch habe, will ich so gut wie möglich nutzen. Auch wenn ich in schlechten Phasen auch mal den ein oder anderen Arschtritt benötigt habe.“

Eine ähnlich lebensbejahende Einstellung wünscht sich Thomas Schuwje auch von anderen Menschen, die einen Schicksalsschlag erleiden mussten. „Viele lassen sich dann hängen, was irgendwie ja auch verständlich ist. Aber man muss das hinter sich lassen, das Beste daraus machen und sich neue Ziele setzen. Das hilft einem ungemein weiter.“
 

Teamsport für Tetraplegiker

Die paralympische Variante des Rugbysports wurde in den 1970er-Jahren in Kanada für Sportler mit einer Tetraplegie, einer Form der Querschnittlähmung, entwickelt. Rollstuhl-Rugby bot damit von Beginn an für Menschen mit Einschränkungen an allen vier Extremitäten einen attraktiven Mannschaftssport.
Seit 2000 in Sydney ist die Sportart Teil des paralympischen Programms. Im Rollstuhl-Rugby treten je vier Spielerinnen und Spieler pro Mannschaft gegeneinander an. Die (Netto-)Spieldauer beträgt 32 Minuten, unterteilt in vier Viertel. Mit 28 Metern Länge und 15 Metern Breite entspricht die Spielfeldgröße einem regulären Basketballfeld.
Ähnlich wie im Rollstuhl-Basketball wird eine funktionelle Klassifizierung angewendet. Den Spielern werden abhängig von ihren funktionalen Bewegungsmöglichkeiten Punktewerte zwischen 0.5 und 3.5 in halben Schritten zugeordnet. Je niedriger der Wert, desto stärker wirkt sich die Einschränkung auf die sportspezifischen Fähigkeiten wie Fahren, Dribbeln oder Passen aus.
Der Gesamtwert aller Spielerinnen und Spieler auf dem Platz darf maximal acht Punkte betragen. Als „Lowpointer“ werden Athleten mit Klassifizierungen von 0,5 bis 1.5 Punkten bezeichnet.  max