Kirchheim/Owen. Manchmal lohnt es sich, zu verzichten – siehe TSV Owen. Die Handballer aus dem Täle wollten am späten Sonntagnachmittag lieber selber spielen als der deutschen Nationalmannschaft im Europameisterschafts-Endspiel gegen Spanien zuzuschauen. Glückliches Ende vom Lied: ein fulminanter 39:22-Heimsieg über den TSV Neuhausen II und frische Motivation im Aufstiegskampf. „Wir waren voll auf unser eigenes Spiel fixiert und haben uns vom Public Viewing im Eingangsbereich der Teckhalle nicht ablenken lassen“, machte TSV-Kreisläufer Raphael Schmid, wegen einer Kreuzband-OP noch bis Saisonende außer Gefecht, hinterher als Erfolgsrezept aus. Als sie gleich nach Spielende schweißgebadet zur Großleinwand eilten, war die Freude doppelt groß.
Andere Vereine im Kreis Esslingen/Teck hatten ihre Pflichtspiele vorgestern eigens wegen dem EM-Finale rechtzeitig auf einen späteren Tag verlegen lassen, und einige Schiedsrichter verweigerten dem seit Monaten feststehenden Spieltag 31. Januar ebenfalls kurzfristig ihre Gefolgschaft. Der sensationelle Siegeszug der Sigurdsson-Sieben in Polen zog die Menschen wie ein Magnet vors Fernsehen. 12,98 Millionen verfolgten das Endspiel in der ARD – ein Spitzenwert, der einem Marktanteil von 42 Prozent entspricht und sonst nur Fußball-Länderspielen vorbehalten ist.
Die Frage ist, welche unmittelbare Auswirkung Deutschlands größter Handball-Erfolg seit dem Gewinn der Weltmeisterschaft 2007 auf nationaler Ebene haben wird. Zumindest drei Mal in der bundesdeutschen Sport-Nachkriegsgeschichte läutete ein internationaler Spitzenerfolg wahre Boomjahre in der jeweiligen Sportart ein. Das „Wunder von Bern“ (1954) mobilisierte auf deutschen Bolz- und Hinterhofplätzen Hunderttausende von Nachwuchs-Rahns, -Walters und -Tureks, und die Sensationserfolge von Boris Becker und Steffi Graf auf dem heiligen Rasen von Wimbledon Mitte der 1980er-Jahre lotste den Nachwuchs massenweise in die Tennisclubs, die Aufnahmestops verhängten. Auch ein Handball-Bundestrainer namens Vlado Stenzel veränderte mit dem Gewinn der Goldmedaille bei der Weltmeisterschaft 1978 die deutsche Sportlandschaft auf einen Schlag. Die Mitgliederzahlen in den nationalen Handballclubs stiegen sprunghaft.
Wie hungrig Kinder und Jugendliche allein im Lenninger Tal damals nach organisiertem Handballtraining waren, daran erinnert sich der Dettinger Rudi Dölfel (68), Ex- Pressewart des TV Unterlenningen und später Abteilungsleiter der SG Lenningen, noch gut. „Wir hatten kurzfristig etwa 25 Prozent mehr Jugendspieler zu betreuen“, sagt er. Der Zulauf war so groß, dass der damalige Jugendleiter Walter Renz an seine Grenzen stieß – zur Bewältigung der TVU-Jugendarbeit verlangte er die Rekrutierung eines neuen Cotrainers. „Für jede unserer vier Mannschaften“, wie Rudi Dölfel in Erinnerung hat.
Seinerzeit ließ der WM-Triumph viele Sporthallen fast aus allen Nähten platzen, so groß war die Nachfrage nach dem neuen In-Sport. Und jetzt, kurz nach dem EM-Triumph 2016? „Einen Boom wie 1978 wird es kaum mehr geben“, sagt Dölfel voraus und argumentiert damit, dass die Interessen und Lebensumstände von damals mit denen von heute nicht zu vergleichen seien. Mit seiner Einschätzung liegt er mit jüngeren Funktionärskollegen auf derselben Wellenlänge. Sowohl Gunter Zettl (57), einer von zwei Weilheimer Abteilungsleitern, als auch der 34-jährige VfL-Jugendleiter Simon Latzel („die Jugendlichen heutzutage haben viele Freizeitmöglichkeiten“) sehen den deutschen Final-Coup von Warschau nicht als ausreichend dafür an, jugendaktiven Vereinen katapultartig neue Mitglieder zuzuführen.
Die Frage, wie man aus dem DHB-Erfolg kurzfristig auf lolaler Ebene Profit schlagen kann, beschäftigt derzeit die Masse aller Amateurvereine. Wie man vom großen Kuchen mehr als ein paar Krümel abbekommen kann, glaubt Rudi Dölfel zu wissen. Der alte Handball-Fuchs sieht nur einen Lösungsweg. „Die Vereine sollten nach dem EM-Erfolg ganz schnell handeln“, empfiehlt er, „Kontakte mit den Schulen aufnehmen, Eltern in organisierten Veranstaltungen erklären, was der Handballsport alles leisten kann, generell Werbung für den Sport machen. Geschieht das kurzfristig, kann man sicherlich einige Nachwuchshandballer hinzu gewinnen“. Viel Länger zu warten, hält er für kontraproduktiv. „Im April beginnt bereits die mehrmonatige Handballpause. Spätestens dann ist der EM-Titel vergessen und dieser Werbeeffekt wieder vorbei“.