Stuttgart. „Das ist doch der Unger“, tuscheln ein paar Geschäftsleute, die auf Lufthansaflug 132 von Frankfurt nach Stuttgart unterwegs sind. Der Mann mit der Glatze grinst sich eins, als er seinen Namen hört, stellt sich aber schlafend. Tobias Unger hat auf dem Heimweg aus Helsinki, der ihn über die Mainmetropole führt, ein erhöhtes Ruhebedürfnis. Nicht, dass er nach dem Silbermedaillengewinn mit der deutschen 4 x 100-Meter-Staffel bei der EM am Sonntag bis in die Puppen gefeiert hätte. Den Schlaf raubte ihm vielmehr die finnische Mittsommersonne, die in Helsinki die Nacht zum Tag macht. „Gott sei Dank lief im Fernsehen was Gescheites, ich habe den Che-Guevara-Film auf ARD angeschaut“, erzählte Unger am Montagabend nach der Landung am Stuttgarter Flughafen.
Dort gab‘s zur Begrüßung nach einem Küsschen von Freundin Corinna eine erste Bewertung des EM-Erfolgs. „Jetzt habe ich den Medaillensatz bei Europameisterschaften komplett“, freute er sich – nach 200-Meter-Gold in der Halle 2005 und Bronze mit der Staffel 2010 stimmt die Silbermedaille von Helsinki Unger optimistisch für die Olympischen Spiele. „In London können wir um Platz fünf mitlaufen“, glaubt er.
Geteilt wird diese Einschätzung von Staffelbundestrainer Ronald Stein: „Ziel in London ist der Einzug ins Finale, dann kann man zwischen Platz fünf und acht alles erreichen“, sagt der Dortmunder, dem durch den Erfolg von Helsinki der sprichwörtliche Stein vom Herzen gefallen ist. Nach der Pleite bei der WM 2011 in Daegu, als die Staffel im Vorlauf nach einem Wechselfehler ausschied, habe laut Stein ein großer Druck auf der Mannschaft gelastet. „Aber die Jungs haben das Vertrauen, das wir in sie gesetzt haben, voll zurückgezahlt und ihr Potenzial optimal abgerufen“, freut sich der Bundestrainer, der am Dienstag seine Staffelkandidaten für Olympia benannt hat.
Neben dem Erfolgsquintett von Helsinki, bestehend aus Unger, Alexander Kosenkow, Julian Reus, Lukas Jakubczyk und Martin Keller, will Stein noch einen sechsten Mann nach London mitnehmen. „Zwei Ersatzläufer sind besser als einer“, weiß er. Der vakante Platz geht entweder an den Wattenscheider Sebastian Ernst oder den Wolfsburger Sven Knipphals – an wen genau, wollte Stein bis zur offiziellen Bekanntgabe am Mittwoch nicht verraten. Anhand seiner Empfehlung wird DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen gemeinsam mit dem Vizepräsidenten Leistungssport, Günther Lore, dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) die Staffel zur Nominierung vorschlagen – eine Formsache, schließlich sind die DLV-Männer seit ihrem 38,41-Lauf Ende Mai in Weinheim für Olympia qualifiziert. Nach aktuellem Stand reisen sie als weltweit siebtbeste Staffel nach London.
Um dort das anvisierte Finale zu erreichen, überlässt der DLV nichts dem Zufall. Von 9. bis 20. Juli bittet der Verband seine Athleten ins Trainingslager nach Kienbaum bei Berlin, wo der Feinschliff für die Staffelwettbewerbe in London erfolgen soll, die am 10. August (Vorläufe) und 11. August (Finale) stattfinden. Bis zur Abreise nach Kienbaum steht für Tobias Unger keineswegs Erholung auf dem Programm. „Wir werden diese Woche ein bisschen mehr trainieren“, verriet er, der bereits gestern Abend wieder im Kirchheimer Stadion seine Runden drehte. Ob er sich dabei schon Gedanken über den 10. Juli gemacht hat, bleibt offen. An dem Tag wird Unger nämlich 33, was den Bundestrainer schon mal in Feierlaune versetzt. „Dann kann er in Kienbaum mal richtig einen ausgeben“, so Stein.