Kirchheim. Selten war ein rechtzeitiger Feierabend für Florent Baudouin so wichtig wie heute. Schließlich will der 46-Jährige pünktlich um kurz vor sechs vor dem Fernseher sitzen, um die Marseillaise zu hören. „Ich summe eher mit, lautes Singen ist nicht so meins“, lacht der Mann, der vor 22 Jahren aus der Nähe von La Rochelle nach Kirchheim kam und hier einer von insgesamt 51 gebürtigen Franzosen ist, die dem Viertelfinale der Equipe Tricolore gegen Deutschland entgegenfiebern.
Ob er es pünktlich zur französischen Nationalhymne schafft, hängt nicht zuletzt vom Verkehrsaufkommen auf der Autobahn ab. Als Vertriebsleiter einer Firma in Sindelfingen kennt Florent Baudouin die Stautücken auf der A 81 und A 8 nur allzu gut, zuletzt war seine Geduld am Montag beim Achtelfinale der Bleus gegen Nigeria gefordert. „Da stand ich eineinhalb Stunden im Stau“, stöhnt er.
Seine Frau Eva hat‘s da leichter. Die gelernte Bankkauffrau, die für die CDU im Kirchheimer Gemeinderat sitzt, arbeitet in Nürtingen und wird mit den beiden Söhnen Maxim und Mathieu rechtzeitig vor dem Fernseher sitzen. Geguckt wird das Duell bei Freunden in Holzmaden, den Fischers. Agnès und Dieter, wie die Baudouins ebenfalls eine französisch-deutsche Familie, haben zum gemeinsamen TV-Viewing in die Urweltgemeinde eingeladen. „Eine gute Gelegenheit, dass wir mal wieder alle zusammenkommen“, freut sich Agnès Fischer auf noch vier weitere franko-germanische Familien aus der Region, die sich alle bereits seit Jahren kennen und heute Abend die Daumen drücken – aber wem? „Ich glaube, dass Deutschland gewinnt, würde es Frankreich aber gönnen“, sagt Agnès Fischer, die einem Sieg ihrer Landsleute heilende Kräfte zuschreiben würde. „Die Stimmung in Frankreich ist gerade sehr schlecht, die Arbeitslosigkeit hoch wie nie. Der Fußball sorgt wieder für Optimismus im Land.“
Auch vor diesem Hintergrund ist Florent Baudouin froh, dass die Franzosen heute auf Deutschland und nicht auf Algerien treffen. „Da wäre bestimmt etwas passiert, die Stimmung hätte leicht kippen können“, kennt er die explosive Stimmung, die das Kräftemessen zwischen Ex-Kolonialmacht und Ex-Kolonie hätte mit sich bringen können. Abgesehen davon dürfte bei der Paarung Frankreich gegen Deutschland der Haussegen ergebnisunabhängig nicht schief hängen. „Egal wer gewinnt, wir können uns hinterher für den jeweils anderen freuen“, weiß Eva Baudouin, die auf einen 2:1-Sieg für Deutschland tippt.
Hin und her gerissen ist Sohnemann Mathieu. Der Elfjährige, der in der D-Jugend des VfL Kirchheim kickt, tippt auf einen deutschen 1:0-Sieg durch ein Müller-Tor, hofft aber insgeheim auf einen Erfolg der Franzosen. „Ich habe versprochen, mit ihm hupend über den Alleenring zu fahren, wenn Frankreich gewinnt“, lacht Papa Florent.
Filius Nummer zwei hat daran keinen Zweifel. „Die Bleus gewinnen 3:2 nach Verlängerung“, glaubt der 15-jährige Maxim, der in seinem Vater einen Verbündeten hat. Florent Baudouin tippt auf ein 2:1 für Frankreich, freut sich unabhängig davon aber am meisten über die Anstoßzeit. „Gut, dass das Spiel schon um sechs ist, das ist die beste Aperitif-Zeit“, lacht er – Stau hin oder her.