Deutschlands bester Blindenfußballer Mulgheta Russom war im Rahmen der Inklusionsoffensive zu Gast in Oberlenningen
Fußball nach Gehör und Gefühl unterm Wielandstein

Fußball spielen ohne dabei etwas zu sehen: Wie das funktioniert und wie man damit auch noch Erfolg hat, stellte Deutschlands bester Blindenfußballer am Donnerstag in Oberlenningen unter Beweis. Mulgheta Russom bot im Rahmen der Inklusionsoffensive des KJR erhellende Einblicke in ein (Sportler-)Leben im Dunkeln.

Lenningen. „Voy, voy, voy“, ruft der Mann mit der Sonnenbrille, während er den Ball am Fuß führend über den Kunstrasen tanzt. Seine jungen Gegenspieler versuchen ihn mit ausgestreckten Armen zu ertasten, doch Mulgheta Russom dribbelt sich gekonnt und leichtfüßig durch die umhertapsenden Kinder, die für wenige Minuten erahnen können, wie der 35-Jährige seinen Sport und das Leben meistert.

Mulgheta Russom, seit einem Autounfall vor 16 Jahren blind, ist auf Einladung des Kreisjugendrings (KJR) nach Oberlenningen gekommen, um Werbung für sich, den Blindenfußball und eine vorgelebte Inklusion zu machen. Der gebürtige Eritreer aus Stuttgart-Botnang ist Deutschlands erfolgreichster und bekanntester Blindenkicker. Keiner hat so viele Spiele für die Nationalmannschaft (33) gemacht, keiner so viele Tore (12) geschossen wie der Mann mit der Rückennummer 8, den alle nur „Mulle“ nennen, und der mit seinem Verein MTV Stuttgart bereits vier Mal Deutscher Meister wurde und auch in der seit Mai laufenden Bundesligasaison als Tabellenerster unter neun Teams wieder auf Titelkurs ist.

Dass Russom außerhalb des weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Blindenfußballs einen Namen hat, liegt auch an seiner Geschichte, die nicht nur bereits im Spiegel oder der Bildzeitung erzählt wurde, sondern der auch ein filmisches Denkmal gesetzt ist. Vor sechs Jahren drehte Lena Neef im Rahmen ihrer Abschlussarbeit an der Hochschule der Medien in Hohenheim (HDM) einen 45-minütigen Dokumentarfilm, in dem Mulgheta Russoms Leben erzählt wird – der Unfall, die Folgen und wie sich der einstige Landesligakicker nach mehrmonatigem Koma und trotz seines Handicaps wieder zurück ins Leben und auf den Sportplatz gekämpft hat.

„Mulgheta – blindes Selbstvertrauen“, heißt der Streifen, über den Russom am Rande der Vorführung in Lenningen schon beinahe schmunzeln muss. „Seitdem hat sich so viel verändert, das wäre eigentlich genug Stoff für einen neuen Film“, sagt er lässig an die Wand der alten Sporthalle gelehnt, während die rund 60  Schülerinnen und Schüler gebannt auf die Leinwand starren und „Mulles“ Geschichte aufsaugen.

Diese hat trotz des dramatischen Einschnitts, den er 1998 erlebte, irgendwie ein Happy End. Zwar sagt Mulgheta Russom, dass er natürlich lieber wieder sehen können würde, doch hat ihn sein Schicksal und wie er es gemeistert hat, zu einem echten Vorbild gemacht – egal, ob blind oder nicht, seine Teilhabe am „normalen“ Alltag und seine Erfolge als Fußballer, die ihn im November zur WM nach Japan führen werden, sind Mutmacher in einer Gesellschaft, in der Inklusion noch zu häufig nur diskutiert statt gelebt wird.

So ist „Mulle“ mittlerweile Deutschlands erster blinder Fitnesstrainer, arbeitet im vereinseigenen Studio des MTV Stuttgart „bis zu 50  Stunden pro Woche“, wie er berichtet. „Doch so oft ich kann, besuche ich auch Veranstaltungen wie diese“, sagt er, ehe er mit Frank Baumeister vom KJR, Heike Deigendesch vom Lenninger Jugendhaus und den Zuschauern auf den Kunstrasen geht, um Blindenfußball hautnah zu veranschaulichen.

Mitmachen kann jede(r). Russom erklärt den Kids, denen die Augen verbunden werden, die Grundlagen des Spiels: Zwei aus vier Feldspielern und einem sehenden Torwart bestehende Teams spielen zwei Mal 25  Minuten auf einem 20 Mal 40 großen, mit Rundumbande ausgestatteten Spielfeld. Der Ball ist kleiner und schwerer als ein normaler Fußball, da eingebaute Rasseln den Spielern eine bessere akustische Wahrnehmung bieten sollen. Darin liegt die größte Herausforderung: Blindenfußballer spielen rein nach Gehör und Gefühl.

Dass dies leichter gesagt als getan ist, wird auch den kurzzeitig erblindeten Kindern auf dem Lenninger Kunstrasen schnell klar. Unter wohlwollendem Lachen der Zuschauer stolpern und tapsen sie über das Spielfeld, während der ebenfalls lachende Mulle Tipps und Anweisungen gibt. Die wichtigste: „Voy“ rufen – das spanische Wort für „Ich komme“ muss jeder Blindenfußballer, der sich dem Ballführenden nähert, laut von sich geben, sonst wird Foul gepfiffen.

„Ich konnte mir im Vorfeld nicht wirklich was unter Blindenfußball vorstellen“, gibt Mitorganisatorin Heike Deigendesch zu, „aber nachdem ich‘s jetzt gesehen habe, finde ich es einfach nur super.“ So wie der Kinder- und Jugendbeauftragten für Lenningen, Owen und Erkenbrechtsweiler, die vor einem halben Jahr ein Inklusionsforum ins Leben gerufen hat, geht es vielen, die Mulgheta Russoms Auftritt verfolgen.

Nur eine Kleinigkeit verhindert, dass der Nachmittag rundum perfekt ist, wie KJR-Mann Frank Baumeister süffisant feststell. „An Mulles DFB-Trikot fehlt der vierte Stern für den jüngsten WM-Sieg.“ Vielleicht kann Russom ihn ja selbst annähen, wenn er im November als Blindenfußball-Weltmeister aus Japan heimkehrt.

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