Wenn in den letzten Wochen des Jahres die Tage kürzer werden, „Last Christmas“ bereits zum gefühlt 100. Mal aus dem Radio erklingt, der Duft von adventlichem Gebäck durch die Wohnung wabert und der weihnachtliche Geschenke-Suchlauf in eine kritische Phase tritt – dann wird in aller Regel auch ein laut vernehmliches „Oooonehundredandeiiiighty“ aus dem Fernsehgerät ertönen. Es ist wieder so weit: Die Darts-Weltmeisterschaft, der Jahreshöhepunkt des einstigen reinen Kneipensports, hat begonnen.
Im altehrwürdigen Alexandra Palace, benannt nach der dänischen Queen Consort Alexandra, erbaut 1873 im Nord-Londoner Stadtbezirk Haringey und in der Szene liebevoll „Ally Pally“ genannt, steppt dann wieder der nicht nur sprichwörtliche Bär. Manchmal sieht man jene Gattung der Tiere auch vor Ort als Kostüm. Schließlich ist die Darts-WM immer auch ein bierseliges, fröhliches Spektakel in karnevaleskem Stil.
Zwei, die in London schon verkleidet dabei waren, sind der ehemalige Jesinger Torspieler Thomas André Stifter und SGOH-Fußballer Alex Polzer – der eine (Stifter) als stilisiertes Bierfass, der andere (Polzer) als Sponge Bob . „Es ist unvorstellbar. Lauter im positiven Sinn Verrückte sind da vor Ort und es ist immer friedlich“, sagt Polzer, der auch als eine der Stimmen des Teckbotenpokal-Turniers bekannt ist. Allerdings sind Fußballtrikots nicht erlaubt. Die könnten auf der Insel schnell zu Misstönen führen.
Schon das Foyer sei von immenser Größe, klärt der Immobilienkaufmann auf. Kein Wunder: Schließlich gibt es dort sämtliche Verpflegungsstände, an denen multikulinarisches Fastfood wie Burger, Pizza, Hot Dogs, Schweinsbraten oder Currywurst ebenso feilgeboten wird wie Getränke. Der Renner ist freilich Bier, welches als Pint (knapp 0,57 Liter) oder als Pitcher (knapp 1,9 Liter) angeboten wird. Rund eine halbe Million Pints (zu je 7,50 Euro) gehen während des 15 Tage dauernden Events über den Tresen.
Zwei Sessions pro Tag
Ebenso volkstümlich wie die Verpflegungspreise sind auch die Eintrittsentgelte. Tribünenplätze sind zwischen 41 und 68 Euro zu erstehen. Plätze am Tisch kosten zwischen 53 und 93 Euro – je Session versteht sich. Und davon gibt es nahezu täglich zwei: Die Mittagssession beginnt um 13.30 Uhr, die Abendsession um 20 Uhr in der sogenannten West Hall. Karten zu erwerben, ist aber ein Glücksspiel. Ab Ende Juli kommen die Vorzugskarten für Abonnenten des Vermarkters pdc.tv auf den Markt, ab Anfang August die regulären Tickets, die ebenso wie die Abo-Eintrittskarten in wenigen Stunden vergriffen sind.
„Wir hatten Glück, dass wir Halbfinalkarten für die Abendsession hatten“, sagt Thomas André Stifter. Auf der Bühne standen damals mit Gary Anderson, Peter Wright, Raymond van Barnefeld und Michael van Gerwen quasi die Crème de la Crème des Dartsports (siehe Infokasten). Auch der ehemalige Jesinger Goalie schwärmt von der Stimmung: „Die verrückten Fans sind so, wie man es im Fernsehen immer sieht. Jeder ist gut drauf und man kommt mit jedem ins Gespräch – schließlich kann man sich auf der Tribüne und auch zwischen den Tischen frei bewegen.“
Besonders präsent ist Stifter der sogenannte „Walk-on“, wenn die Spieler zur persönlichen Lieblingsmusik, ihre Fans abklatschend, zur Bühne laufen: „Da kriegt man Gänsehaut.“ Einziges kleines Manko aus Fansicht: Wenn nach entsprechendem Bierkonsum der Toilettengang ansteht, kann es schon mal eng werden. „Das“, so Alex Polzer augenzwinkernd, „kann dann aufgrund der Entfernung schon mal gefühlte fünf Minuten dauern.“
Scoring is funny but Double makes the money
Rund 20 Jahre dauert mittlerweile der nach wie vor stetig steigende Darts-Hype in Deutschland, maßgeblich befeuert durch erfolgreiche und vor allem charismatische Topspieler wie der Engländer Michael Smith, der Waliser Gerwyn Price, der Niederländer Michael van Gerwen oder die Schotten Gary Anderson und Peter Wright – allesamt amtierende oder ehemalige Weltmeister.
Folgerichtig hatten sich heuer bei der seit 1994 unter dem Dach der Professional Darts Corporation (PDC) ausgetragenen Weltmeisterschaft mit Vorjahres-Halbfinalist Gabriel Clemens, Martin Schindler, Florian Hempel, Ricardo Pietreczko und Dragutin Horvat erstmals fünf Deutsche Darter für das Mega-Event qualifiziert. Im Kartenvorverkauf schlug sich das umgehend nieder:
25 Prozent der Eintrittskarten gingen dieses Jahr nach Deutschland, wo die Zahl der im Deutschen Dartverband (DDV) aktiven Pfeilsportler auf hohem Niveau (16 000) stabil ist.
Einer davon ist Steffen Lutz, der in der B-Liga „Mittlerer Neckarraum“ für den im TSV Jesingen organisierten „DC Gerschdaklopfer“ spielt und in seiner Klasse aktuell die zweitmeisten Siege eingeheimst hat.
Training sei die Grundlage für den Erfolg, sagt Steffen Lutz, der bei sich daheim im Keller trainiert. Auch mit wenig Kondition könne man ein guter und erfolgreicher Spieler werden. Wichtig sei, so Lutz, der sogenannte „Check-out“ – also das Beenden des Spiels mit einem Wurf in das passende Doppelfeld. Übertragen auf den Profisport heißt das dann: „Scoring is funny but Double makes the money.“ tim