Lokalsport
Goodbye mit Gold

Paralympics Linn Kazmaier sichert sich im Langlauf über zehn Kilometer endgültig einen Platz in den Geschichtsbüchern des Sports. Die 15-Jährige und ihr Guide Florian Baumann laufen das Rennen ihres Lebens. Von Bernd Köble

Als die Ziellinie näher rückte, fehlten auch ZDF-Kommentator Julian Wiegmann die Worte für eine nüchterne Analyse: „Die holt jetzt nicht noch Gold. Dann kipp ich vom Stuhl.“ Sie hat Gold geholt – und wie. Fast 40 Sekunden Vorsprung auf die lange Zeit führende Chinesin Yue Wang sind im Langlauf genauso eine andere Welt wie die sieben Jahre Altersunterschied, die am Samstag zwischen Gold und Silber lagen. Linn Kazmaier hat eine unfassbare Woche in Peking mit ihrer fünften Medaille gekrönt. Nach Bronze und dreimal Silber stand die 15-Jährige aus Oberlenningen und ihr Begleiter Florian Baumann aus Balzholz am Samstag nach dem Zehn-Kilometer-Rennen ganz oben auf dem Treppchen und konnten ihr Glück kaum fassen.

Mit den äußerst schwierigen Bedingungen an diesem Tag war die Athletin mit der geringsten Wettkampferfahrung am besten zurechtgekommen. Wind, milde Temperaturen und schwerer Schnee stellte die Läuferinnen vor allem in den Abfahrten vor knifflige Aufgaben. Während sich etliche Laufpaare mit den kräftezehrenden Verhältnissen schwertaten, spulten Kazmaier und Baumann Runde für Runde wie ein gut geöltes Uhrwerk ab. Während sich einige der Favoritinnen offenbar schon früh verausgabt hatten, rollten die beiden in einem perfekt getimten Rennen das Feld von hinten auf. Weder die dreifache Goldmedaillengewinnerin Oksana Shishkova (Ukraine) noch die Sprintsiegerin Carina Edlinger (Österreich), die diesmal Bronze holte, konnten dem Tempo des schwäbischen Duos am Ende folgen. Eingangs der Schlussrunde war auch die Chinesin Yue Wang eingeholt, die das Rennen bis dahin klar dominiert hatte. Zeitlich lag Kazmaier bereits vorher knapp vorn, da sie im Gegensatz zur Lokalmatadorin über keinen Zeitbonus verfügte.

Ganz am Ende waren es die Worte eines 81-Jährigen, die der jüngsten deutschen Para-Wintersportlerin aller Zeiten durch den Kopf schossen: „Die letzten Schritte müssen die besten sein,“ hatte ihr der frühere langjährige Bundestrainer Werner Nauber stets eingebläut. „Daran habe ich in dem Moment gedacht,“ sagt Linn Kazmaier als sie mit letzten Kräften und einem „Glückshüpfer“ die Ziellinie querte, wo sie ihr Begleiter mit offenen Armen und einem Jubelschrei empfing.

Es ist eine kurze Nacht für viele – nicht nur – aber vor allem im beschaulichen Oberlennningen. Im Haus der Kazmaiers beginnt der Samstag wie schon die ganze Woche über noch vor der Morgendämmerung am Fernseher, wo sich die gesamte Familie versammelt. „Mich hat‘s am Schluss nicht mehr gehalten,“ gesteht Mutter Gabi, die mit pochendem Herzen verfolgt, wie ihre Tochter am nach hinten ausgestreckten Stock ihres Begleiters die letzte schwierige Abfahrt vor der langen Zielgeraden nimmt. Was der Zuschauer nicht sieht, kann auch die stark sehbehinderte Athletin nicht erkennen: Die zahllosen Schneehaufen in der Spur, die sich auf der völlig aufgeweichten Piste angesammelt haben und ein tückisches Hindernis formen. Ein Sturz hier und der Traum von Gold wäre womöglich ausgeträumt.

Ein „Glückskeks“ behält recht

Es ist gut gegangen und Gabi Kazmaier hätte es eigentlich wissen müssen, denn das Orakel, das Freunden asiatischer Küche geläufig sein dürfte, hatte es auf unglaubliche Weise prophezeit: „Sie werden diese Woche auf Wolke sieben schweben,“ stand auf dem Zettelchen, versteckt in einem sogenannten Glückskeks, den Gabi Kazmaier serviert bekam, als sie mit der Familie den Tag der Eröffnungsfeier mit einem Essen beim Chinesen beging.

Wolke sieben – von dort gilt es irgendwann einen Weg nach unten zu finden, weiß die Mutter. Sorge, dass Linn abhebt, hat sie nicht. „Sie ist geerdet und kann den Schalter umlegen,“ ist sie überzeugt. Dafür sorgt auch ihr Begleiter Florian Baumann, der sportlich bei der Skizunft Uhingen beheimatet ist und aus Balzholz stammt. Wie die beiden als Team harmonieren, gilt als Schlüssel zum Erfolg. Vor jedem Rennen wird jede Kurve, jede Abfahrt genauestens unter die Lupe genommen. „Linn setzt das Eins-zu-Eins um,“ sagt Florian Baumann. Trotz des Altersunterschieds – die Silbermedaille am Mittwoch war ein Geschenk zu Baumanns 21. Geburtstag – scheinen die beiden seelenverwandt. „Florian ist absolut begeistert von Linn und wie sie an Wettkämpfe herangeht,“ sagt seine Mutter Petra. „Er verfügt im Rennen über ein unglaubliches Einfühlungsvermögen,“ sagt Gabi Kazmaier über den ehemaligen Biathleten. Was nur wenige wissen: Beide haben sich bei einem Verwandtschaftstreffen kennengelernt. Linns Oma und Florians Opa sind Cousine und Cousin. Als Linn im September ins Sportinternat nach Freiburg zog, folgte er ihr und verlegte seinen Studienort dorthin, wo er mit 19 seine eigene Karriere als aussichtsreicher Biathlet beendet hat. Der deutsche Junioren-Vizemeister hat irgendwann erkannt, dass er zu viele Facetten in sich trägt, um sie auf ein einziges Ziel im Leistungssport ausrichten zu können. Für Linn Kazmaier ist diese Erkenntnis schon jetzt zum Glücksfall geworden. Den beiden könnte eine große sportliche Zukunft bevorstehen.

Am Montag geht es nun zurück in die Heimat. Am frühen Abend wird das deutsche Team in Frankfurt erwartet. Nach einer Kurzvisite in Oberlenningen wird sich Linn Kazmaier schon am Mittwoch in den Zug nach Freiburg setzen, wo für sie am Donnerstag die Schule wieder beginnt. Dazwischen warten Pressetermine, TV-Auftritte und Empfänge. Dass es der Parasport binnen einer Woche aus dem Schatten ins grelle Licht der Öffentlichkeit geschafft hat, ist bei aller Bescheidenheit auch ihr Verdienst.

 

Glückwünsche aus der Ukraine

Glückwünsche erhalten die Kazmaiers inzwischen nicht mehr nur von offizieller Stelle und aus dem engsten Freundeskreis, sondern aus aller Welt. Selbst aus der von Krieg und Zerstörung betroffenen Ukraine erreichte am Samstag eine Nachricht Oberlenningen. Eine ehemalige Leichtathletin aus der 300 000-Einwohner-Stadt Poltawa, drei Autostunden südöstlich von Kiew, hat Gabi Kazmaier ihre Glückwünsche übersandt.
Poltawa ist Partnerstadt der drei Filderkommunen Filderstadt, Leinfelden-Echterdingen und Ostfildern. Beide kennen sich von Wettkämpfen aus einer Zeit, als Gabi Kazmaier noch als junge Athletin für die LG Filder am Start war. Brücken bauen ist das, was der Parasport will. Linn Kazmaier darf sich seit dieser Woche als Baumeisterin fühlen. bk