If I can make it there, I’ll make it anywhere – Frank Sinatras musikalische Liebeserklärung an die Metropole New York ist so etwas wie der Soundtrack zur Radsportkarriere des Jannik Steimle. In seinem dritten Jahr bei Quick Step bekommt der 25-Jährige aus Weilheim mehr denn je zu spüren, was es heißt, im Trikot des weltbesten Teams zu stecken. Wer es hier schafft, der schafft es überall – Steimle will es schaffen. Auch oder gerade beim belgischen Branchenführer. Besser heute als morgen. Dafür braucht er, was viele Jahre nicht unbedingt zu seiner größten Stärke zählte: Geduld.
Die kommenden Wochen werden vermutlich die wichtigsten sein, seit er im Spätsommer 2019 einen Ausbildungsvertrag als „Stagiare“ beim Worldtour-Team unterschrieben hat. Schon an diesem Mittwoch setzt sich die Reihe der Frühjahrsklassiker mit Brugge-De Panne fort. Zwei Tage später, am Freitag, geht es mit den Saxo Bank Classic in Harelbeke weiter, bevor mit Dwars door Vlaanderen die März-Rennserie am Mittwoch darauf für ihn endet. Danach werden die Weichen gestellt in Richtung April, wenn im Radsportland Belgien die eigentlichen Festspielwochen beginnen. Flandern-Rundfahrt, Amstel Gold Race, Paris-Roubaix, Lüttich-Bastogne-Lüttich. Drei dieser Rennen zählen zu den sogenannten Monumenten des Radsports. Zumindest bei einem in dieser Saison am Start zu stehen, ist Steimles berechtigter Traum. Doch wer beim FC Bayern auf Rädern in der Champions-League auflaufen will, muss sich diesen Platz hart erarbeiten. Von Paris-Roubaix darf er immerhin träumen. Der Weilheimer steht im Moment auf der teaminternen Longlist. Die Chancen, sagt er selbst, stehen fifty-fifty. In den kommenden Wochen gilt es also, die fehlenden Prozent durch Leistung zu verdienen. Am besten mit einem Platz in der vordersten Reihe.
Erstmals in den Top Ten
Ein Jahr nach seinem Horror-Unfall, der ihm 2021 einen dicken Strich durch die Saisonpläne machte, wäre ihm das fast gelungen. Auf der Strecke, auf der er so schwer gestürzt war, fuhr Steimle bei Nokere Koerse am vergangenen Mittwoch als Zehnter erstmals in diesem Frühjahr in die Top Ten, obwohl ihn die Woche zuvor ein Infekt ausgebremst hatte. Es war ein Rennen, in dem er so unterwegs war, wie man ihn kennt: mit der Nase im Wind, auf Attacken lauernd, aber auch mit erfolglosen Versuchen, eine Gruppe durchzubringen. Am Ende waren es wieder die Spezialisten, die das Podium im Massensprint unter sich ausmachten. Dass sein Kollege Bert Van Lerberghe als Vierter knapp das Podest verfehlte, stand symbolisch für das bisherige Frühjahr: Es läuft noch nicht wirklich rund bei Quick Step.
Darauf vertrauen, dass der Knoten irgendwann platzt, muss Jannik Steimle auch in eigener Sache. Er weiß, dafür muss vieles passen: das Profil der Strecke, die Tagesform, die Order der Teamleitung. Steimles Dilemma: Er reibt sich zu oft auf, während andere die Früchte seiner Arbeit ernten. Das ist im Moment noch der Preis für den Schriftzug über seiner Brust.
Noch ist es viel zu früh für ein Urteil. Die Saison hat für ihn gerade erst begonnen. „Die Form kommt von Tag zu Tag“, sagt er. „Was noch fehlt, ist der Freifahrschein, um auf die eigene Karte zu fahren.“ Seine Stärken im Rennen auszuspielen, intuitiv Entscheidungen zu treffen – in jedem anderen Rennstall wäre das einfacher. Er hat sich bewusst für die harte Tour entschieden und zugepackt, als man ihm im vergangenen Herbst eine Vertragsverlängerung anbot. Jetzt heißt es dranbleiben und vor allem: weiter dran glauben. „Es ist eine Frage der Zeit“, versichert Steimle, der in zwei Wochen seinen 26. Geburtstag feiert. Damit ist er im besten Radsport-Alter angelangt. In einer Karrierephase, in dem die Frage schon mal im Raum steht, wohin die Reise gehen soll. „Natürlich ist die Helferrolle nicht langfristig mein Ziel“, sagt er. „Ich will Rennen gewinnen.“
Auch bei Quick Step ist ihm das bisher in jeder Saison gelungen. Die Frage ist, wann sich die Chance diesmal bietet. Am Mittwoch wohl eher nicht. An der belgischen Küste dürfte wieder Taktikarbeit auf ihn warten. Der 208 Kilometer lange Rennkurs zwischen Brügge und De Panne mündet schon nach 55 Kilometern in einer flachen Schleife, die dreimal umrundet wird. Ein Ritt auf der Windkante und ein Finale für Sprinter wie Steimles Teamkollege Mark Cavendish. Ob der 36-jährige Brite, der 52 Etappensiege bei Grand Tours auf dem Konto hat, um den Sieg fahren wird, entscheidet auch einer wie er nicht allein. Vieles wird davon abhängen, ob Jannik Steimle einen guten Tag erwischt.