Owen/Nürtingen. Morgens um neun. Es ist fast menschenleer am Bootshaus am Neckar in Nürtingen, wo der örtliche Ruderclub (RCN) sein Domizil hat. Markus Becker und Stefan Henze, zwei 29-jährige Wildwasser-Nationalfahrer mit dem Wahl-Wohnort Owen, lassen in Minutenschnelle ihr Kanu zu Wasser. Das ist 4,10 Meter lang, wiegt 15 Kilogramm und trägt gut sichtbar Kratzspuren am Unterbau. Denn das Carbon-Gefährt ist viel gefahren und alt, und das formverbesserte, individuell angepasste und 2 500 Euro teure neue Modell zwar längst bestellt, beim Hersteller im tschechischen 8 000-Seelen-Örtchen Dubi aber noch nicht abgeholt. Doch einen akuten Abholzwang verspüren Becker/Henze ohnehin nicht. Die Weltcup-Saison ist schließlich vorbei – „hier auf dem Neckar machen wir jetzt bis Anfang nächsten Jahres unser Wintertraining. Schwerpunkte sind Kondition und Ausdauer“, wie Becker sagt. Und so betreiben die Zweiercanadier-Profis mit dem unüberhörbaren sächsischen Spracheinschlag („ursprünglich stammen wir beide aus Halle an der Saale“) in diesen Tagen auch intensiv das Kilometerfressen zu Wasser. Ein Hightech-Boot braucht‘s für den kerzengeraden Auslauf nicht.
Gut fünf bis sechs Mal pro Woche pendeln die beiden von Owen an den Nürtinger Trainingsort, wo sie entweder paddeln, joggen oder im Kraftraum was für die Muckis tun – morgens wie mittags und öfters ganz allein. Den Platz an der Wörthstraße finden sie „perfekt“ fürs Training, auch wenn der Neckar in ihren Augen ein (zu) stilles Wasser sei. Doch die Zurückhaltung des Flusses passt ins Nürtinger Bild, denn an Land halten sich die Turbulenzen auch in Grenzen – Turbulenzen um ihre Person. Dass Deutschlands beste Zweiercanadier-Fahrer und Olympiagold-Hoffnungen 2012 zu öffentlichkeitswirksamen Vorzeigemitgliedern imRuderclub taugen könnten: Noch ist in Nürtingen davon keine Rede. „Uns kennt hier bisher noch keiner“, schmunzelt Becker auf die Frage, wie oft er clubintern in Smalltalks denn schon interviewt worden sei, „und das liegt daran, dass ja auch niemand fragt, woher wir kommen oder was wir sportlich so machen.“
Und so ziehen sie seelenruhig und unbemerkt im ruhigen Nürtinger Neckarwasser derzeit ihre sportlichen Kreise, hoffen wie alle Randsport-Stars auf einen Sponsor oder Gönner („ein Autohaus wäre ideal, wir fahren 40 000 Kilometer im Jahr“) und denken schon an die nächsten Ziele in der mit dem Leistungscheck des Deutschen Kanu-Verbandes (DKV) für alle Nationalfahrer am Wochenende 28./29./30. Januar beginnenden Saison 2011. Sind in Augsburg sämtliche (Laktat-)Werte erwartungsgemäß im grünen Bereich, stehen für Becker/Henze drei wichtige Events an: Neben der Europameisterschaft im katalonischen La Seu d‘Urgell (11./12. Juni) und der WM in Bratislava (8./9. September) auch der Weltcup mit vier Läufen in Slowenien, Frankreich, Markleeberg/Sachsen und Tschechien. „In allen drei Wettbewerben wollen wir aufs Treppchen“, erklärt Stefan Henze, der im Boot hinten sitzt.
Es ist keine Selbstüberschätzung, die die Sport-Profis mit dem formellen Arbeitgeber Bundeswehr („wir gehören der Sportfördergruppe an“) verbal nach dem Titel-Optimum greifen lässt, sondern die Erfahrung, dass bei den großen Medaillenkämpfen fast immer die üblichen Verdächtigen das Rennen machten: neben den tschechischen Europameistern Volf/Stepanek und den Dreifach-Olympiasiegern Hochschorner/Hochschorner (Slowakei) eben Becker/Henze. Alle drei Duos sitzen seit Jahren regelmäßig im selben Boot: dem der Topfavoriten.
Während ihr sportlicher Lebenstraum in Form von Olympia-Gold frühestens in knapp zwei Jahren verwirklicht werden kann, haben Becker und Henze ihr privates Glück inzwischen gefunden. Angela und Ute Bazle heißen die beiden Auserwählten, sind Schwestern, stammen aus Owen und haben die beiden Sportler von der Kanu-Hochburg Augsburg schließlich ins Herzogstädtchen umziehen lassen. „Kennengelernt haben wir uns am Bundesleistungszentrum Augsburg nach meinem Schlüsselbeinbruch im Vorjahr. Angela war seinerzeit Physiotherapeutin dort“, sagt Marcus Becker, der inzwischen auch Vater ist. „Wir wollen in Owen heimisch werden“, erklären beide.