Selbst im Urlaub verfolgt ihn ein Schatten. Von der Hochzeitsreise direkt auf den OP-Tisch: Die Metallplatte, die sich Jannik Steimle vor drei Wochen aus der rechten Schulter hat entfernen lassen, ist ein Andenken an den kapitalen Sturz bei der Burgos-Rundfahrt im August vor zwei Jahren. Das Ding musste raus. Zu groß das Risiko durch das Metall bei einem möglichen weiteren Crash. Fast schon symptomatisch für die Karriere des Weilheimers, was danach kam: Entzündung der Wunde, neuerliche OP, Antibiotika-Kur.
Jannik Steimle und das Glück. So recht wollen sie nicht zusammenfinden. Seine sechste Saison als Profi dürfte die vielleicht entscheidende in seiner Karriere im Radsport werden. Im April wird er 29. Ein Alter, das keine Talente mehr kennt und nur wenige, die erst danach richtig durchstarten. 2025 beginnt für ihn nicht nur die erneute Jagd nach verpassten Erfolgen, sondern auch nach einem neuen Arbeitspapier Der Kontrakt mit seinem jetzigen Arbeitgeber Q36.5 läuft am Saisonende aus. Was danach kommt, wird sein Marktwert nach dem Sommer entscheiden. „Ich lasse das alles auf mich zukommen und bin offen nach allen Seiten“, sagt er.
Ein starkes Jahr hinlegen und meinen Vertrag verlängern.
Jannik Steimle zu seinen Zielen in der neuen Saison.
Am Montag startet Steimle mit seinem Schweizer Teamkollegen Fabio Christen ins erste Trainingslager nach Mallorca. Nach einer kurzen Pause über die Feiertage bezieht das Team im Januar Quartier in Calpe an der spanischen Festlandküste. Wenn in Belgien und Frankreichs Norden im März die Reihe der Frühjahrklassiker beginnt, wird es für Steimle ernst. Im Sommer dann warten die deutschen Titelkämpfe, wo er zum wiederholten Mal den Zeitfahr-Titel anvisiert. Ein Ziel, das mit etwas Glück nicht unrealistisch erscheint. Genauso wie eine Top-20-Platzierung bei einem der großen Eintagesrennen. Ziele, die er sich gesetzt und für die er mit seinem neuen Trainer Clemens Hesse zuletzt viel Kopfarbeit gleistet hat. Mental, sagt er, sei er stärker geworden. Auch die Motivation hat nach all den schwierigen Jahren nicht gelitten. „Ich hab nach wie vor Bock, jeden Tag aufs Rad zu steigen“, meint der Weilheimer. Entscheidend wird jedoch sein, dass der Tag kommt, an dem Körper und Geist auf den Punkt hin das volle Programm abrufen können. So wie vergangenen März beim Kopfsteinpflaster-Klassiker GP Denain, seinem einzigen Sieg in dieser Saison.
Im richtigen Moment durch den winzigen Spalt in der Tür schlüpfen, das wird immer schwieriger. Der Radsport entwickelt sich rasant – und er wird gefährlicher. Selbst Ausnahmefahrer wie Jonas Vingegaard, Remco Evenepoel oder Wout van Aert waren zuletzt in brutale Stürze verwickelt. Wimpernschläge, die Karriere und Leben eine radikale Wende geben können. Mehr Risiko, höheres Tempo und eine immense Leistungsdichte selbst unter jungen Talenten, die nachrücken, machen eine langfristige Karriereplanung im vielleicht härtesten Sport überhaupt inzwischen unmöglich.
Kein Wunder, dass sich auch bei einem wie Steimle nachdenkliche Töne untermischen. Wiederkehrende Verletzungen und Krankheitspausen, die nicht nur ihn seit Jahren begleiten, sind der Preis für ein brutales Pensum. „Wenn du 70 Rennen im Jahr fährst, dich beim Körperfett ab Mai am Limit bewegst, dann wird die Luft dünn“, sagt Steimle. Von denen, die mit Anfang 20 den Sprung ins Profilager schaffen, halten heute die Wenigsten bis Mitte 30 durch. Gleichzeitig erlebt man auch in der World Tour immer häufiger, dass selbst bekannte Namen im Kampf um einen neuen Vertrag leer ausgehen. Wer diesem Druck standhalten will, braucht ein stabiles Umfeld. „Wenn du dich nur in der Radsport-Bubble bewegst, hast du keine Chance, über solche Dinge offen zu reden“, meint Jannik Steimle. „Wenn ich meine Frau und meine Familie nicht hätte, dann weiß ich nicht, wo ich heute stünde.“
Einen Gedanken ans Karriereende verschwendet er dennoch nicht. Er verspürt nach wie vor den Hunger auf Erfolge. „Mein Ziel ist es, ein starkes Jahr hinzulegen und meinen Vertrag zu verlängern“, betont er. „In zwei, drei Jahren werden wir dann sehen, wohin sich der Radsport und ich entwickeln.“
Albasini wird neuer Sportlicher Leiter
Der Schweizer Michael Albasini wird in der kommenden Saison neuer Sportlicher Leiter im Team von Jannik Steimle. Der 43-jährige Ex-Profi war neben mehreren Etappenerfolgen bei größeren Landesrundfahrten 2012 Gesamtsieger der Katalonien-Rundfahrt. In den vergangenen vier Jahren betreute er als Straßentrainer das Schweizer Nationalteam. Für Jannik Steimle ein Name, der ihn seit den Anfängen im bezahlten Radsport begleitet: Marcello Albasini, Vater des künftigen Sportchefs, war Sportlicher Leiter beim Continental-Team Vorarlberg-Santic, wo Steimle bis 2019 unter Vertrag stand. bk