Lennard Kämna, Nils Politt, Maximilian Schachmann, Nico Denz – was im Radsport in Deutschland Rang und Namen hat, stellt sich am Freitag in Donaueschingen dem Kampf gegen die Uhr. Sieben Fahrer, ein Team – der deutsche Branchenführer Bora Hansgrohe steckt sowohl beim Einzelzeitfahren am Freitag wie auch im Straßenrennen um den deutschen Titel am Sonntag fast schon gewohnheitsmäßig in der Leaderrolle. Für einen anderen heißt das mal wieder: allein gegen alle. Jannik Steimle hat sich an diese Rolle gewöhnt. Als einziger Deutscher im Trikot von Soudal Quick-Step kann er im Straßenrennen über 215 Kilometer am Sonntag auf keine Unterstützung bauen. Im 32-Kilometer-Zeitfahren vom Rathausplatz in Donaueschingen bis zum Ziel in Bad Dürrheim fällt dieser Faktor nicht ins Gewicht. Auf der technisch mäßig anspruchsvollen Strecke mit nur wenigen, überwiegend moderaten Anstiegen ist jeder auf sich allein gestellt. „Ein Einzelzeitfahren über diese Distanz, da gibt es keine Taktik“, meint Steimle, „das ist pure Gewalt“. Auch wenn die erste Saisonhälfte für den Weilheimer katastrophal lief: Im Kampf gegen die Uhr zählt er deutschlandweit zu den Besten. Deshalb klingt seine Einschätzung trotz all der Tiefschläge und Kursänderungen in den zurückliegenden Wochen alles andere als defensiv: „Ein Podestplatz“, sagt der 26-Jährige, „ist eigentlich ein Muss.“
Um mehr daraus zu machen, müsste vieles passen. Alles, was besser ist, wäre für ihn „gerechter Lohn für die harte Arbeit seit vergangenem November“. Bisher hat sich die Schufterei nicht ausgezahlt. Sein sechster Platz im Zeitfahren bei der Belgien-Rundfahrt am vergangenen Freitag über die Hälfte der DM-Distanz war immerhin ein erster Fingerzeig, dass die Form zurückkehrt. „Obwohl ich mich nicht wirklich gut gefühlt habe“, wie er betont, fehlten am Ende ganze sechs Sekunden aufs Podium. Nur vier Sekunden betrug sein Rückstand auf den Gesamtsieger Matthieu van der Poel, der als exzellenter Zeitfahrer gilt.
Am Freitag also heißt es für Steimle: alles auf eine Karte setzen. Den Sonntag will er – je nachdem, wie es läuft – notfalls als intensives Training mitnehmen. Danach geht es direkt für zwei Wochen ins Höhentrainingslager nach Italien. Stärke zeigen auf nationaler Bühne, den positiven Trend bestätigen, das wäre zuvor wichtig, auch mit Blick auf eine mögliche Nominierung für die WM Anfang August in Glasgow. Fährt der WM-Zug ohne ihn ab, wäre das nächste größere Ziel die Dänemark-Rundfahrt, die vom 15. bis 19. August stattfindet. Auf der zweiten Saisonhälfte ruhen alle Hoffnungen nach dem verkorksten Frühjahr. Die Richtung der Formkurve stimmt. „In vier Wochen ändert sich nicht alles“, meint Jannik Steimle zu seiner Rückkehr in den Rennmodus. „Für mich heißt es, jetzt einfach zu schauen, wie komme ich aus der Nummer wieder raus.“
Viel davon wird am Freitag vom Leistungsvermögen der Konkurrenz abhängen. Titelverteidiger Lennard Kämna gilt auch in diesem Jahr als Topfavorit. Der Gesamtneunte beim diesjährigen Giro steckt nach kräftezehrenden Wochen allerdings mitten in den Vorbereitungen auf die Tour, die bereits am Samstag in einer Woche im nordspanischen Bilbao startet. Mit dem amtierenden deutschen Straßenmeister Nils Politt und seinem Vorgänger, dem Berliner Maximilian Schachmann, stehen zwei weitere große Namen, die über den nötigen Punch verfügen, in den Erwartungen weit oben. Nicht zu vergessen ein Sprintspezialist wie Max Walscheid (Cofidis), der auf dem kraftbetonten Kurs am südöstlichen Rand des Schwarzwaldes ebenfalls ein Kandidat sein könnte.
Der „Bumms“ kehrt zurück
Steimle geht locker an die Heimaufgabe heran. Nach seiner Rückkehr ins Renngeschehen hieß es in den vergangenen Wochen für ihn: die Kärrnerarbeit im Team verrichten, Löcher stopfen, auf den Wattmeter schauen. Inzwischen stellt er fest, „dass ich den Bumms auf der Ebene bis vier, fünf Prozent Steigung wieder habe“. Im Grunde ist das alles, was man braucht, um sich am Freitag das Meister-Jersey überzuziehen.
Nachgefragt: „Radsport wird gefährlich bleiben“
Der Radsport hat seit Freitag ein weiteres Todesopfer zu beklagen, und die Gemeinschaft trauert. Jannik Steimle hat der tragische Tod seines Schweizer Weggefährten Gino Mäder nachdenklich gemacht – was geht einem 26-Jährigen durch den Kopf, der viel Geld mit dem Spektakel auf zwei Rädern verdient und der vor zwei Jahren um ein Haar selbst seine Gesundheit preisgegeben hätte?
Was sind die ersten Gedanke, wenn man als Kollege von einer solchen Hiobsbotschaft erfährt?
„Das war ein völliger Schock, weil es erst hieß, sein Zustand sei stabil. Ich stand in Belgien beim Zeitfahren am Start und musste das ausblenden, obwohl es mich unheimlich mitgenommen hat. Da kam bei mir auch sofort die Situation vor drei Jahren mit Fabio wieder hoch.“ (Steimles Teamkollege Fabio Jacobsen kämpfte nach einem Sturz im Zielsprint bei der Polen-Rundfahrt 2020 tagelang um sein Leben, Anm. d. Red.).
Wie gut haben Sie Gino Mäder gekannt?
„Wir haben bei einem Nachwuchs-Bahnrennen in der Schweiz einmal das Zimmer geteilt. Er war damals in der U 17, ich in der U 19. Danach haben wir uns etwas aus den Augen verloren, bis wir als Profis wieder gemeinsam am Start standen.“
Sie haben selbst drei schwere Stürze hinter sich. Einer hätte vor zwei Jahren fast alles verändert.
„Bei meinem Sturz in Belgien waren neben anderen Knochenbrüchen auch zwei Halswirbel angebrochen. Mit etwas Pech säße ich heute im Rollstuhl.“
Einfach nur Berufsrisiko?
Radsport ist gefährlich. Das war er immer und wird er bleiben. Man kann heute ein paar Dinge aber schon kritisch hinterfragen. Ob man die Zielankunft einer Etappe wie beim tragischen Unglück am Freitag nach einer langen Abfahrt legen muss oder warum es im Zielbereich bei Sprintankünften noch immer Absperrgitter mit Standbeinen gibt.
Ist sich die Fahrer-Community in solchen Fragen einig?
Wie sehr solche Fragen im Vordergrund stehen, ist immer ganz individuell. Da gibt es die ganz jungen, die aufsteigen wollen und kein Risiko scheuen, und die Erfahrenen, die sich da klarer positionieren. Einer, der noch nie selbst einen schweren Sturz erlebt hat, verhält sich zudem immer anders. Meine Konsequenz daraus ist zunächst, dass ich im Training null Risiko eingehe. Im Rennen lässt sich das leider nicht immer vermeiden. Da gibt es Situationen, da ist es besser und manchmal auch schlechter, wenn man viel nachdenkt.
Welche Rolle spielen Material und Technik?
Der Siegeszug der Scheibenbremse hat sicher zu riskanterer Fahrweise geführt. Bei hohem Tempo spät anbremsen, das war vorher nicht denkbar. Bernd Köble