Sie gilt als die heilige flämische Woche, als das Hochamt des Welt-Radsports in Belgien. Zwischen den Klassikern Gent-Welvegem am vergangenen Sonntag, Dwars Door Vlaanderen an diesem Mittwoch und der Flandern-Rundfahrt als Höhepunkt am kommenden Sonntag herrscht im nordwestlichen Nachbarland der Ausnahmezustand. Massenparty an den Etappenorten, Hunderttausende an den Strecken – und ein Weilheimer mittendrin. Wie sich das anfühlt? „Etwa so, als würdest du im ausverkauften Stadion in Stuttgart die
Rolle vor der Cannstatter Kurve parken,“ zieht Jannik Steimle einen interessanten Vergleich.
An diesem Freitag wird er 29 Jahre alt. Für einen Radprofi das beste Alter. Für Steimle ein Jahr der Entscheidung. Für wie lange und unter welchen Bedingungen er weitermacht, ob er mit dem Schweizer Team Q36,5 wird planen können oder ob 2026 der Neustart folgt, das alles dürfte von seinem Marktwert am Ende dieses Sommers abhängen. Die Saison ist noch jung. Beim famosen Solo-Ritt des Dänen Mads Pedersen, der bei Gent-Welvegem am Sonntag seinen dritten Erfolg feierte, spielten die Eidgenossen keine Rolle.
Als würdest du die Rolle vor der Cannstatter Kurve parken.
Jannik Steimle Der Fußball-Fan zur Atmosphäre bei der Flandern-Rundfahrt.
Nach 240 Kilometern auf der Windkante waren auch bei Jannik Steimle die Beine am Montag noch schwer, aber immerhin heil. Nach der Hälfte des Rennens war der Weilheimer im Straßengraben gelandet, nachdem sein Vordermann gestürzt war. Ein „weicher Abgang“ ins Gras, allerdings nicht ganz ohne Folgen: Die Gruppe, mit der Steimle bis dahin aussichtsreich unterwegs war – uneinholbar entwischt. Sein Teamkollege Emils Liepins lag zu diesem Zeitpunkt noch gut im Rennen. Beim dritten und letzten Anstieg zum Kemmelberg war es dann allerdings auch um den 32-jährigen Letten geschehen. Er musste die Verfolgergruppe ziehen lassen.
Quartett im Blickpunkt
Beim Start heute über vergleichsweise kurze 185 Kilometer von Roeselare nach Waregem – sozusagen die Ouvertüre zur Flandern-Rundfahrt am Sonntag – steht bei Q36,5 ein Quartett im Blickpunkt. Neben Steimle sollen der Schweizer Fabio Christen und die beiden Italiener Giacomo Nizzolo und Nicolo Parisini um die Plätze fahren. Top 20 ist als ambitioniertes Ziel ausgegeben, schließlich stehen mit Mads Pedersen und Jonathan Milan (beide Lidl-Trek) oder auch den Vorjahressiegern Matteo Jorgenson und Dylan Van Baarle (Visma) eine ganze Reihe Fahrer am Start, die in dieser Disziplin zur Weltspitze zählen.
Die Luft ist also dünn und sie wird noch dünner, wenn es am Sonntag über 270 legendäre Kilometer durch Flandern in Richtung Ziel in Oudenaarde geht. Im vergangenen Jahr landete Steimle trotz eines Defekts auf einem starken 34. Platz, obwohl die Flandern-Rundfahrt mit ihren mörderischen Rampen und etlichen Höhenmetern eigentlich nicht sein Rennen ist. Das wartet die Woche darauf mit Paris-Roubaix. Beim Ritt übers Kopfsteinpflaster durch die „Hölle des Nordens“ sind großgewachsene Fahrer wie Steimle, die ein paar Kilo mehr auf die Waage bringen, im Vorteil.
Start beim Giro?
Danach heißt es, ein paar Tage Luft dran lassen, bis sich die Frage stellt: Giro oder nicht? Wer bei der dreiwöchigen Italien-Rundfahrt ab 9. Mai als Begleitschutz für Kapitän Tom Pidcock abgestellt wird, dürfte sich bei Q36,5 erst kurzfristig entscheiden. Steimle ist eigentlich kein Mann für den Giro mit seinen mehr als 52.000 Höhenmetern auf 21 Tagesabschnitte verteilt – trotz zweier kurzer Einzelzeitfahren in diesem Jahr und insgesamt sechs Flachetappen.
Doch der Kader der Schweizer ist klein, es gab einige Verletzte und auch Krankheitsfälle. Er habe bei Quick-Step aus Regenerationsgründen schon einmal einen Giro-Start abgelehnt, sagt Jannik Steimle. „Das habe ich hinterher bereut.“ Hinter einer der drei großen Schleifen einen Haken zu setzen, ist schließlich der Traum eines jeden Radprofis. Für Jannik Steimle wäre es bereits der zweite. Bei der Vuelta in Spanien war er 2020 als Etapppendritter in Puebla de Sanabria sogar aufs Podium gefahren. Argumente, die für einen Start sprächen, gibt es also durchaus. Und einen Grund mehr, nach den kräftezehrenden Frühjahrsklassikern im Mai nochmal auf die Zähne zu beißen und bis drei zu zählen: „Dann würde mir nur noch die Tour in Frankreich fehlen,“ sagt Steimle.
Wo und wann?
Startzeit bei Dwars Door Vlanderen ist am Mittwoch um 12:25 Uhr. Der Sieger wird gegen 16:35 Uhr im Ziel erwartet. Die 109. Auflage der Flandern-Rundfahrt über 270 Rennkilometer startet am Sonntag um 10 Uhr auf dem Marktplatz in Brügge. Erwartete Zielankunft ist um 16:35 Uhr.
Eurosport überträgt beide Rennen live im Free-TV.