Lokalsport
„Kann nicht alles über einen Kamm scheren“

Interview Der Vorsitzende des Schwäbi­schen Turnerbunds Wolfgang Drexler fürchtet die Corona-Folgen für Sport und Gesellschaft. Von Sigor Paesler

Wolfgang Drexler bereiten die Folgen des zweiten Lockdowns für den Amateuer- und Breitensport Sorgen - vor allem für Kinder. Der Vorsitzende des Schwäbischen Turnerbunds und SPD-Politiker aus Esslingen hat deshalb einen Brief an Sportministerin Susanne Eisenmann (CDU) geschrieben. Dort führt er unter anderem aus: „Der Schwäbische Turnerbund unterstützt die Bundes- und Landesregierung im Kampf gegen die Ausbreitung der Corona-Pandemie, hält die Schließung des Freizeit- und Amateursportbereichs jedoch für einen nicht notwendigen Schritt zur Eindämmung des derzeitigen Infektionsgeschehens.“ Warum er dieser Ansicht ist und welche Folgen der Pandemie er für Sport und Gesellschaft befürchtet, erklärt der 74-Jährige im Interview.

Wenn Sie auf die momentane Situation in der Corona-Pandemie schauen, sind Sie da eher SPD-Politiker oder eher Sport-Funktionär?

Wolfgang Drexler: Da bin ich aufgrund meiner sehr engen Beziehung zum Sport schon eher der Sportfunktionär - aber ich berücksichtige natürlich immer die Schwierigkeiten, die die Politik bei der Umsetzung solcher Maßnahmen hat. Insofern glaube ich, dass das eine ganz gute Mischung ist.

Die Reduzierung von Kontakten wird von Experten als eine der wichtigsten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie betrachtet. Warum können sich die Menschen Ihrer Meinung nach trotzdem in Sportvereinen treffen?

Drexler: Wir sind im Schwäbischen Turnerbund vor allen Dingen der Auffassung, dass der erneute Lockdown die Kinder und Jugendlichen hart trifft. Darum ging es mir in dem Brief an Frau Eisenmann hauptsächlich. Wir unterstützen den Staat, aber die Kinder sind alle im Kindergarten und in der Grundschule zusammen. Dann ist die Frage: Warum können sie nicht auch im Kinderturnen zusammen sein? Denn das sind in der Regel die gleichen Kinder - und es findet anschließend auch kein Umtrunk statt. In unserem Brief wollten wir darauf hinweisen, dass man nicht alles über einen Kamm scheren kann - aber das macht man jetzt. Wir akzeptieren das, aber wir bitten darum, wenn es wieder Lockerungen gibt, dann so schnell wie möglich nicht nur an den Profifußball und andere Leistungssportler zu denken, sondern auch an die mehr als 100  000 Kinder allein im STB-Bereich im Kinderturnen.

Der Nachwuchs liegt Ihnen besonders am Herzen.

Ich möchte ein Bespiel nennen, das ich erlebt habe und das das veranschaulicht: Nachdem wir im März alles zugemacht hatten und im Juli wieder aufmachen konnten, haben wir zuerst bei der Sportvereinigung Feuerbach das Kinderturnen wieder eröffnet. Da war eine ganz tolle Stimmung, es kamen viele Kinder unter sechs Jahren. Als ich die Halle verlassen wollte, saß ein etwa vierjähriges Mädchen da und hat bitterlich geweint, weil es nicht rechtzeitig kommen konnte und in keiner Gruppe mehr unterkam, weil eine feste Zahl eingehalten werden musste. Da wurde mir klar, wie intensiv gerade die Kleinen die Bewegung suchen, aber vor allem die Begegnung. Wer das gesehen hat, der weiß, wie wichtig das ist.

Welche Langzeitfolgen befürchten Sie insgesamt - für den Sport und für die Sportler?

Die erste Auswirkung ist mangelnde Bewegung, die werden wir erst später merken. Schon vor Corona haben sich nur 30 Prozent der Kinder in Baden-Württemberg eine Stunde lang am Tag bewegt. Die überwiegende Zahl tut das nicht, obwohl es nötig wäre. Ein gro­ßer Teil der Volkskrankheiten hat da seine Ursachen. Wir haben uns zu einer Sitz-Gesellschaft entwickelt. Das kann man nur verbessern, wenn man die Kinder gleich in jungen Jahren zum Sport bringt. Wer im Kinderturnen war, kann später auch besser Handball, Fußball oder Tennis spielen. Die Kinder lernen aber auch andere Dinge, wie verlieren und gewinnen zu können, Freunde zu finden, dass viele Dinge Spaß machen, wenn man es gemeinsam macht. Das gilt auch für andere Sportarten, etwa die Bambini im Fußball. Es besteht die Sorge, dass die Corona-Pandemie die Probleme verschärft.

Sport im Verein ist aber nicht nur Bewegung . . .

Bewegung und Begegnung ist im STB seit seiner Gründung vor bald 175 Jahren sehr wichtig, deshalb trifft uns die Pandemie so hart. Die Gemeinsamkeit ist genauso wichtig wie die Bewegung. Wir befürchten, dass der Lockdown Auswirkungen auf die Menschen, aber auch auf die Gemeinschaft hat. Die Folgen werden die Vereine vermutlich im kommenden Jahr viel stärker treffen als im Moment. Es gibt Schätzungen, wonach die Zahl der Mitglieder um zehn bis 15 Prozent sinken könnte. Es ist auch die Frage, wie vielfältig der Sport nach der Pandemie noch sein wird und wie viel Ehrenamt noch da ist. Wir wollen nicht die Gemeinsamkeit verlieren. Wir kämpfen mit unseren Vereinen dagegen an, dass die Pandemie zu große Löcher reißt.

Der STB hat - möglicherweise noch mehr als andere Fachverbände - einen Ansatz über den reinen Sportbetrieb hinaus. Was vermissen Sie in diesem Bereich besonders?

Ja, Turnen ist viel mehr: Wir mussten in diesem Jahr unser Landes­turnfest in Ludwigsburg absagen - 18 000 Turnerinnen und Turner aus allen der vielfältigen Sportarten wären dabei gewesen, und 80 000 Besucher. Das Turnfest ist eine riesige Begegnung der Turnbewegung, die für viele eine große Bedeutung hat. Aus der Absage resultieren finanzielle Schwierigkeiten, weil wir den Überschuss in den Kindersport investieren - vor allem aber: Da fehlt etwas im Jahresablauf. Das Gleiche gilt für das jährlich stattfindende Kinderturnfest und die vielen Turngalas, die wir absagen mussten.

Haben Sie auf Ihren Brief an Frau Eisenmann eigentlich schon eine Antwort bekommen?

Sie hat sich bedankt und erklärt, dass sie unser Anliegen versteht. Sie ist der Meinung, dass man angesichts der momentanen Infektionszahlen alles an Begegnung unterbinden sollte, was möglich ist. Das sehen wir grundsätzlich ja auch so, aber uns geht es wie gesagt um die Kinder, die sich ohne­hin schon im Kindergarten oder in der Schule treffen. Sie hat auch sig­nalisiert, dass sie im Falle eines Rückgangs der Infektionszahlen an die Jüngeren denken wird, damit sie wieder mit dem Sport anfangen können. Das hat sie im Juli nach dem ersten Lockdown ja auch schon gemacht.

Sie haben also den Eindruck, dass Ihr Appell erhört wurde?

Ja, das muss man so sagen.

Sie sind auch 1. Vorsitzender des FC Esslingen, der in der Bezirksliga gerade gut dasteht. Auch hier ruht der Spielbetrieb bis Ende November. Was glauben Sie, wann wieder Fußball gespielt werden könnte - und sollte?

Ob Amateurfußball im Dezember wieder aufmacht, weiß ich nicht. Wir wissen ja generell nicht, wie die Infektionszahlen Ende November sein werden. Wenn sie nicht runtergehen, wird die Politik die Maßnahmen möglicherweise verlängern oder sogar verschärfen. Es wäre schön, wenn wir im Dezember weiterspielen könnten. Aber wenn sich die Pause weit in das kommende Jahr hineinzieht, kann man ja gar nicht alle Spiele nachholen. Und dann wird man sich wie in der vergangenen Saison die Frage stellen, wer auf- und wer absteigt.

Bei vielen Vereinen herrscht Frust, weil sie viel Zeit und Geld in die Erarbeitung von Hygienekonzepten gesteckt haben.

Der Sport hat insgesamt eine hervorragende Arbeit geleistet, hat Hygienekonzepte erstellt und sie ausgeführt. Beim Fußball muss man natürlich darauf aufpassen, dass die Spieler anschließend nicht zusammenhocken. Das ist richtig - aber es macht den Sport doch eigentlich auch aus, nach dem Spiel etwa noch mit dem Gegner darüber zu reden, wie es war. Sport ist für die allermeisten Deutschen nicht nur: Ich komme, bestreite den Wettbewerb und haue wieder ab. Viele Vereine sind durch die Hygienemaßnahmen personell und finanziell an ihre Grenze gekommen - denn das war ja alles nicht geplant. Die Frage ist: Wer macht das in Zukunft?