Eigentlich ist Bircan Pinar eine sympathische, nette junge Frau. Eigentlich. Denn sobald die 20-Jährige in den Ring steigt, möchte man mit ihr lieber nichts zu tun haben. Mit ihren Gegnerinnen kennt die Sport- und Fitnesskauffrau keine Gnade. Nicht umsonst ist die Weilheimerin Ende vergangenen Jahres deutsche Meisterin im Kickboxen geworden. Im so genannten K1-Stil bis 65 Kilogramm hatte sie ihre Gegnerin Mareicke Mutterer bei der Fightnight in Nürtingen nach fünf Mal zwei Minuten klar dominiert und gewann einstimmig nach Punkten. Damit hat die Profi-Athletin der Kampfsportakademie Kirchheim einen Titel mehr in ihre Sammlung aufgenommen – im Amateurbereich wurde das Mitglied der Nationalmannschaft bereits dreimal deutsche Meisterin und feierte 2019 sogar den WM-Titel.
Anders als die meisten Profis, ist Bircan nicht schon als Kind zum Kampfsport gekommen. Im Gegenteil. Als eher schüchternes Mädchen, das zu Grundschulzeiten gemobbt wurde, fehlte ihr der Mut. „Ich konnte eigentlich nie was sagen, war immer still“, erinnert sich die 20-Jährige. Als es ihr auf der Schule in Esslingen mit der Lernerei zu viel wurde und ihr der körperliche Ausgleich fehlte, nahm ein Kumpel sie einfach mit ins Training bei der Kampfsportakademie. „Mir hat das sofort gefallen. Meine Eltern waren allerdings sehr skeptisch, ob ich das durchziehen würde“, sagt Bircan Pinar. Das war vor fünf Jahren, und in dieser Zeit ist die junge Frau nicht nur extrem aufgetaut, sondern hat sich auch jede Menge Selbstbewusstsein erarbeitet.
Von Beginn an war die Weilheimerin so begeistert von ihrem neuen Hobby, dass sie jeden Tag ins Training kam. „Das war für mich ein toller Ausgleich, und ich habe auch recht schnell gemerkt, dass ich ganz gut bin.“ Nach zwei Wochen fragte sie ihren Trainer, ob sie nicht mal am Sparring teilnehmen könnte. „Da wird im Ring mit Schutzausrüstung gekämpft, und sie hat sich gut angestellt. Ich habe gleich gesehen, dass sie den Kämpferinstinkt hat“, sagt Marco Cefalu, Trainer und Leiter der Kirchheimer Kampfsportakademie. Nach nur vier Monaten bestritt Pinar ihr erstes Turnier, wurde in dem Sommer zweimal Deutsche Meisterin der offenen Klasse bis 65 Kilogramm, und sollte bereits 2020 ihren ersten professionellen Kampf absolvieren. „Doch dann kam Corona“, waren sowohl Trainer als auch Kämpferin schwer enttäuscht. Bircan Pinar ließ sich den Wind aber nicht aus den Segeln nehmen und blieb dran.
Regeneration gehört dazu
Um auf dem entsprechenden Niveau kämpfen zu können, absolviert die 20-Jährige ein strammes Pensum. Morgens um 7.30 Uhr steht die erste Trainingseinheit an. Dann geht die Weilheimerin laufen, macht Sprints und so genanntes Pratzen-Training, bei dem auf Polster geschlagen und getreten wird. Nach ihrem Arbeitstag, der sich aus Bürotätigkeiten und dem Trainieren der zahlreichen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen in der Kampfsportakademie zusammensetzt, steht ihr eigenes Training an. „Ich habe fast jeden Tag zwei Einheiten, einmal ist Ruhetag, denn Regeneration ist das A und O“, weiß die 20-Jährige, die erstmal lernen musste, auf ihren Körper zu hören. Auch die Ernährung spielt eine wichtige Rolle. „Ich esse drei Mahlzeiten pro Tag, immer proteinreich. Ich brauche genügend Energie fürs Training.“
Größere Verletzungen sind bei der Weilheimerin bislang ausgeblieben, nicht mal ein blaues Auge war dabei. „Nur mal eine leichte Gehirnerschütterung“, sagt sie lachend. „Wir wissen ja alle, dass Sport im Profibereich nicht mehr wirklich gesund ist“, sagt Marco Cefalu, der weiß, wovon er redet. Sein letzter Kampf war die Deutsche Meisterschaft 2018, bei der er den Titel geholt hat. Für seinen Schützling steht der nächste Kampf bereits am heutigen Samstag an. Bei der Maximus Fightnight im Sportpark Weil in Esslingen will sie über drei Mal drei Minuten erneut zeigen, dass sie mit ihrer Gegnerin keine Gnade kennt.
Menschen geistig und körperlich stark machen
Die Kampfsportakademie gibt es mittlerweile an 19 Standorten in Deutschland. Die Akademie in Kirchheim wird von dem ehemaligen Profikämpfer Marco Cefalu geleitet. Der 39-Jährige war in Nüriingen einst selbst Schüler und hat 2014 seine eigene Akademie eröffnet. „Ich hatte immer die Idee, etwas eigenes zu machen“, berichtet der Fitnessökonom. Inzwischen kommen in Kirchheim rund 220 Mitglieder im Alter zwischen drei und 60 Jahren regelmäßig ins Training. „Mein Ziel ist es, Menschen geistig und körperlich stark zu machen.“ Die Kleinsten beginnen mit Sportkarate. „Den meisten Eltern geht es darum, dass ihre Kinder Selbstvertrauen bekommen, lernen, Regeln einzuhalten und dass sie Erfolgserlebnisse haben.“
Gründer der ersten Kampfsportakademie, die ihren Sitz in Nürtingen hat, war Ertekin Arslan. Die Anzahl der Mitarbeiter ist von fünf auf 20 gestiegen, während der Trainerstab Zuwächse von 20 auf 50 Trainer verzeichnet. Diese qualifizierten Fachkräfte bringen langjährige Erfahrung mit und sind Teil der ISO 9001-zertifizierten Weiterbildungsmaßnahmen. Die Schülerinnen und Schüler sowie Kämpferinnen und Kämpfer nehmen regelmäßig an nationalen und internationalen Wettbewerben teil, einschließlich Turnieren, Fight Nights und Weltmeisterschaften. Dabei wurde die Akademie mit insgesamt 3500 Mitgliedern, mehrfach als Kampfsportschule des Jahres von der World Kickboxing Union (WKU) ausgezeichnet.
Die Mitglieder müssen nicht zwangsläufig aktiv bei Turnieren in den Ring steigen. „Richtig ambitioniert sind etwa zehn Prozent. Der Rest will sich einfach fit halten“, erklärt Marco Cefalu. Und das funktioniert mit Übungen zur Steigerung der Flexibilität und Dehnbarkeit des Körpers sowie der gelungenen Koordination von Bewegung und Geist. Dazu gehören Rhythmusfähigkeit, Orientierung im Raum und die Wahrung der Balance. Das Training ist ganzheitlich ausgerichtet und dient der allgemeinen Verbesserung der Muskelfunktionen sowie der Kräftigung und Stabilisierung des gesamten Körpers durch wirksame und alltagsähnliche Übungen. Daran können die Mitglieder ihrem Fitnessstand entsprechend teilnehmen.
Kampfsport, Kickboxen oder Karate sind inzwischen sehr populärer geworden und längst nicht mehr mit den althergebrachten negativen Klischees behaftet. Der Frauenanteil in der Kampfsportakademie Kirchheim liegt bei über 50 Prozent. Bei dem Kampfstil handelt es sich um eine Mischung aus Kicks mit klassischem Boxen. Im K1-Stil sind auch Kicks auf Oberschenkel und Schienbeine erlaubt, sogar zum Kopf, sowohl mit den Händen als auch mit den Beinen. In der Akademie in Kirchheim wird montags bis donnerstags von 15 bis 20.15 trainiert, Den Anfang machen die Kinder, die Panda- oder Dragon-Kids heißen. sl
Weitere Infos gibt es auf www.kampfsportakademie.com/kampfsport-kirchheim