Mit der Freundin im Café abhängen, die Sonne am Himmel über Freiburg genießen, ein Buch lesen – die letzten Tage vor dem Start ins große Abenteuer passen in ihre Gefühlswelt: Sie wirkt zufrieden und tiefenentspannt. Schlaflose Nächte? Nicht das Ding von Kira Böhm. Dabei gäbe es durchaus
Grund für den Extra-Schuss Adrenalin. An diesem Samstag beginnt für sie eine lange Reise ins Ungewisse. Eine kurze Nacht in Frankfurt, Sonntagfrüh um sechs geht der Flug über Lissabon ins brasilianische São Paulo. Von der Mega-City sind es acht Stunden Autofahrt bis nach Araxá, wo eineinhalb Wochen später, am 5. April, für die Mountainbike-Elite der Startschuss zur neuen Weltcupsaison fällt.
Für die junge Weilheimerin, die in Freiburg auf Lehramt studiert, ist es die Rückkehr an den Ort, wo ziemlich genau vor einem Jahr eine märchenhafte Saison ihren Anfang nahm. Sieben Weltcupsiege über die olympische Distanz und im Shorttrack, der deutsche Meistertitel, EM-Bronze, schließlich der Weltcup-Gesamtsieg als die Krönung ihres letzten Jahres in der U 23. Allen, die ihre Geschichte zunächst noch für glückliche Fügung hielten, hat sie es gezeigt. Keine war stärker, keine war beständiger und keine wusste die eigene Rolle am Ende besser einzuschätzen als sie. Jetzt steht sie am Beginn ihrer ersten Saison in der Frauen-Elite und wieder dominiert das, was sie zuallererst mit ihrem Sport verbindet: pure Freude.
Dabei steckt hinter der notorisch gut gelaunten 23-Jährigen, aus der die Sätze druckreif sprudeln, eine beinharte Arbeiterin. Seit Weihnachten hat sie nur aus dem Koffer gelebt, unter der Wintersonne Spaniens unzählige Kilometer auf dem Rennrad und Mountainbike geschrubbt. Sie weiß, was sie kann. Dazu gehört nicht nur das Wissen um das körperliche Leistungsvermögen, sondern auch die Fähigkeit, anzuerkennen, was man nicht kann – zumindest noch nicht. Platz vier und fünf in den beiden Vorbereitungsrennen Ende Februar in Katalonien und vorige Woche in Marseille waren als Newcomerin ein klares Statement. Zur vollen Wahrheit gehört aber auch: Knapp sechs Minuten Rückstand in Südfrankreich auf die schwedische Siegerin Jenny Rissveds, die in der Weltrangliste auf Platz drei steht, machen deutlich, was ihr auf dem Weg an die Spitze noch fehlt.
Es reicht ja schon, wenn ich mir einrede, dass ich Lust drauf habe.
Kira Böhm über ihre Abneigung gegenüber Matschrennen.
Welche Ziele sind also realistisch? „Ich weiß, dass ich mit den vorderen Plätzen nichts zu tun haben werde und vermutlich auch noch keine konstante Saison fahren kann“, meint Kira Böhm. „Ein Platz in den top 15 wäre an einem perfekten Tag aber das, was ich mir zutraue.“ Für sie das Wichtigste: „Ich will mich weiterentwickeln, Erfahrung sammeln und besser werden, ganz unabhängig von Platzierungen.“
Von der Gejagten zur Jägerin – das nimmt viel Druck von den Schultern, schließlich erwartet niemand von ihr, dass sie dort anknüpft, wo sie aufgehört hat. In der Elite weht ein rauerer Wind. Wo man ihr letztes Jahr am Start respektvoll Platz gemacht hat, werden jetzt die Ellbogen ausgefahren. Das Tempo ist härter, die Rennen eine Runde länger als in der U 23. Das macht grob gerechnet eine knappe Viertelstunde mehr an Höchstbelastung.
Die kommende Saison wird also spannend und gleichzeitig ihre letzte im Trikot von Cube sein. Nach dem Gewinn des Gesamtweltcups hätten ihr im Herbst vermutlich alle Türen offen gestanden. Doch ihr Vertrag ist bindend, und sie erfüllt ihn ohne zu murren, obwohl sie im bayrischen Rennstall die einzige Elitefahrerin ist. Premieren- und Vertragsjahr in einem, das ließe viele zittern. Zumal in einer Zeit, in der im Profigeschäft mit immer härteren Bandagen um Teamplätze gekämpft und gesiebt wird. Bestes Beispiel: Böhms Lebensgefährte Leon Kaiser, immerhin amtierender deutscher Meister im Shorttrack, steht seit Saisonende ohne Team da.
Seit November mit Manager
Angst vor demselben Schicksal? Nö. Seit November hat die Debütantin einen eigenen Manager, der den Markt sondiert und ihr den Rücken freihält. Und irgendwo, davon ist sie überzeugt, wird sich jemand finden, der unabhängig von Platzierungen ihr wahres Potenzial erkennt. Nicht wenige halten das Paket, das sie zu bieten hat, für das kompletteste, das im deutschen Frauenlager derzeit zu finden ist. Sie verfügt über einen gewaltigen Antritt aus dem Renntempo heraus, ist eine solide Abfahrerin, eine gute Kletterin und ganz obendrein ein kluger Kopf. Sie selbst kommt mit weniger Worten aus: „Ich bin nirgendwo überragend, aber überall gut.“ Auch an ihrer Abneigung gegenüber Schlamm und tiefen Pisten hat sie gearbeitet. Auf ihre Art: „Es reicht ja schon, wenn ich mir einrede, dass ich Lust drauf habe“, sagt sie und lacht.
Was das alles wert ist, wird sich in zwei Wochen in Araxá zeigen. Die ersten beiden Weltcups finden an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden am selben Ort auf modifizierten Strecken statt. Kira Böhm ist eine Modellathletin durch und durch. Und doch wird ihre Leidenschaft für diesen Sport von mehr getragen als von Wattzahlen und Pulswerten. Sie freut sich auf die Menschen in Brasilien. „Das Publikum dort ist wirklich krass.“ Und sie freut sich, dass das Schweizer Bergdorf Lenzerheide auch dieses Jahr im Weltcupkalender steht. „Da gibt es wunderbar grüne Wiesen und einen herrlichen See.“