Er kam, ließ sich feiern und siegte: Giacomo Nizzolo (Q36.5) hat die vierte Ausgabe der Kirchheimer Radsportnacht für sich entschieden. Der 36-jährige Italiener hatte auf der Schlussrunde durch die Innenstadt den größten Punch auf der Zielgeraden von der Eingangskurve in die Marktstraße bis hinauf zum Ziel am Marktbrunnen. Auf den letzten Metern legte Nizzolo eine Radlänge zwischen sich und seine beiden Verfolger Jonas Koch (Bora hansgrohe-Red Bull) und Teamkollege Jannik Steimle, der seinen dritten Sieg beim Heimrennen damit knapp verpasste. Nach Gianni Bugno und Paolo Bettini bei den Weltmeisterschaften in Stuttgart 1991 und 2007 gewann wieder ein Italiener ein Rennen in Württemberg. Vierter mit wenigen Sekunden Rückstand wurde der Überraschungssieger der italienischen Meisterschaften am vergangenen Sonntag, Filippo Conca. Bester unter den Amateuren, die dem Profi-Quartett an der Spitze einen beherzten Kampf lieferten, war Dario Rapps, im vergangenen Jahr noch Zweiter an selber Stelle. Der amtierende deutsche Kriteriumsmeister fuhr im Weltklassefeld als Fünfter über die Ziellinie.
Wo sonst werden wir 65 Runden lang von den Leuten angefeuert?
Jonas Koch über die Atmosphäre in Kirchheim.
Das Publikum feierte an diesem herrlichen Sommerabend vor der Fachwerkkulisse im Stadtkern nicht nur den Sieger, es bereitete dem Radsport eine beeindruckende Bühne. Gut abzulesen an den Gesichtern der Fahrer, die trotz der Strapazen nach 78 Kilometern am Anschlag mit einem Lächeln zurück an den Zielstrich rollten, wo Streckensprecher Freddy Eberle, die ersten Stimmen einsammelte. Es war ein Familienfest in ausgelassener Stimmung – nicht nur für Jonas Koch, der mit der ganzen Familie aus Rottweil angereist war. Wann haben die schon mal Gelegenheit, den Papa ohne großen Reisestress im Rennen zu erleben? „Kirchheim ist schon etwas Besonderes. Ich war hier nicht zum letzten Mal“, versicherte er. „Wo sonst werden wir 65 Runden lang von den Leuten angefeuert“?
Respekt zollte auch der Sieger Publikum und Strecke: „Das war schon echt intensiv“, meinte Giacomo Nizzolo über den engen und verwinkelten Kurs mit schnellen rechtwinkligen Kurven und einer180-Grad-Kehre am nördlichen Ende des Alleenrings. „Hier musst du immer konzentriert sein und auch in den Kurven das Tempo hochhalten“. Für den Europameister von 2020 war es der erst zweite Sieg überhaupt in Deutschland. 2011 gewann er als damals 22-Jähriger im oberbayrischen Moosburg die Schlussetappe der Bayern-Rundfahrt. Nach Kirchheim werde er definitiv wiederkommen, verkündete er unter dem Jubel der Zuschauer – allerdings nicht als Rennfahrer. Der 36-Jährige wird seine Karriere nach dieser Saison beenden.
Für Gastgeber und Lokalmatador Jannik Steimle war es der perfekte Abend, auch ohne Sieg. „Ich hatte auf den letzten Metern nicht mehr die Beine, um eins draufzusetzen“, gestand er. „Giacomo ist auf den letzten Metern dann einfach der Schnellste“. Das war es dann aber auch mit Geschenken an seinen Kumpel und Zimmergenossen auf der Tour. Die letzten Male habe immer er auf dem Beistellbett geschlafen“, scherzte Steimle. „Damit ist jetzt Schluss“.
So viel Prominenz bei einem Einladungsrennen in der schwäbischen Provinz, das erlebt man nicht alle Tage. Max Walscheid, beim Team Jayco AlUla eigentlich gesetzt für die Tour, die am selben Tag in Lille startete, stand während des gesamten Rennens als Co-Kommentator mit Streckensprecher Freddy Eberle auf dem Beobachterposten. „Eigentlich hätte ich heute hier ganz gerne als Fahrer ein Wörtchen mitgeredet“, verriet Walscheid, dessen linker Ellbogen noch immer eine Narbe mit deutlicher Schwellung trug. Nach einem bösen Sturz beim belgischen Eintagesrennen Dwars door het Hageland vor drei Wochen war die Tour in Frankreich für ihn gelaufen.
Auch für die Amateurszene im Radsport ist Kirchheim zu einem Fixpunkt im Rennkalender geworden. Sich mit Fahrern dieser Klasse messen zu können, sei eine seltene Gelegenheit, meinte Kriteriumsmeister Dario Rapps. „Man hat heute gesehen, was passiert, wenn diese Jungs richtig den Hahn aufdrehen“. Rapps ging auch als Fünftplatzierter an diesem Abend nicht leer aus und kann künftig zur Eisdiele ganz entspannt auf zwei Rädern rollen: Der Champion vom RSC Kempten nahm als Sonderpreis ein schickes City-Bike mit E-Antrieb mit nach Hause.
"Kirchheim ist zum Aushängeschild des Radsports in der Region geworden“, freute sich Uli Bock, einer der führenden Köpfe im Württembergischen Radsportverband. Für Jürgen und Verena Wastl, die mit ihrer Schar an Helfern Jahr für Jahr die Kärrnerarbeit beim Rennen leisten, ein besonderes Lob. „Wenn wir hier den Radsport zu den Menschen und die Leute an die Strecke bringen, dann ist das unser Lohn für viele Stunden Arbeit“, meinte Jürgen Wastl. Ehefrau Verena war ganz nebenbei als Simultan-Dolmetscherin im Einsatz – als einzige im Team, die fließend Italienisch spricht.
Den härtesten Job an diesem Abend jedoch hatte ein ganz anderer: Gerhard Bökel absolvierte 65 kurvige Runden im Renntempo stehend im Schiebedach des Streckenfahrzeugs – mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Wie man so etwas durchsteht? „Ich gehe regelmäßig ins Trainingslager im Erlebnispark“, verriet der hoch aufgeschossene Mann vom MRSC Ottenbach mit einem Augenzwinkern. „Dort fahre ich stundenlang Achterbahn.“