Die Ruhe nach dem Sturm war dringend nötig. Wenn man als 15-Jährige über Nacht zum Medienstar wird, in einem Sport, der bis dahin alles andere als im Rampenlicht stand, dann heißt es stark sein. Stark war Linn Kazmaier nicht nur bei ihren Auftritten in der Loipe, sondern auch in dem, was danach kam. Fast schon stoisch hat sie die Flut an Interviews und Ehrungen nach ihren fünf Medaillen bei den Winter-Paralympics in Peking über sich ergehen lassen. Mehr oder minder abgeschirmt von den Eltern. Als Familie musste man plötzlich damit umgehen, dass vor dem Haus in Oberlenningen das Fernsehen aufkreuzte. Als der Sturm sich legte, hat sie einfach dort weitergemacht, wo sie in Peking aufgehört hat. Dabei wurden ihre insgesamt zehn Medaillen bei den Para-Weltmeisterschaften der Nordischen in Östersund und im kanadischen Prince George schon kaum mehr wahrgenommen.
An diesem Dienstag hat Linn Kazmaier mit Familie und Freunden ihren 18. Geburtstag gefeiert. Daheim in Oberlenningen, obwohl ihr Lebens- und Trainingsmittelpunkt seit Jahren in Freiburg liegt. Dort, in unmittelbarer Nähe des Olympiastützpunkts, besucht sie die 12. Klasse der Staudinger-Gesamtschule – einer Eliteschule des Sports – wo im Frühjahr 2026 die Abiturprüfungen anstehen. Die 18-Jährige gilt als gute Schülerin, auch wenn ihre Noten unter der Doppelbelastung zuletzt etwas gelitten haben, wie sie gesteht. „Eine Eins“, meint sie völlig ohne Stolz in der Stimme, „steht aber noch immer vor dem Komma“.
Wenn ich nicht wüsste, dass es Menschen gibt, die anders sehen, wäre mein Zustand für mich völlig normal.
Linn Kazmaier über ihre angeborene Sehschwäche, die nur zehn Prozent Sehkraft ermöglicht.
Unterricht und tägliches Training unter einen Hut zu bringen, ist eine Herausforderung. Erst recht, wenn man mit einem Handicap durchs Leben geht. Als Kind hat sie gelernt mit ihrer angeborenen Sehschwäche umzugehen. Als junge Frau wächst der Drang, dem Schicksal mit Stärke zu begegnen. Im Sommer hat sie ihren Rucksack gepackt und zehn Tage lang die Wälder Norwegens durchwandert – allein und ohne fremde Hilfe. Zeit, in der sie lernt, zu vertrauen. Ihrer eigenen Intuition, dem Körper, vielleicht der Welt, die sie anders wahrnimmt als andere. „Ich versuche im Leben mutig zu sein“, sagt sie. „Wenn ich nicht wüsste, dass es Menschen gibt, die anders sehen als ich, dann wäre mein Zustand für mich völlig normal“.
Mut war auch gefordert, als sie mit 14 Jahren die Entscheidung traf, nach Freiburg zu ziehen. Weg vom Elternhaus, früh zum ersten Mal auf eigenen Beinen. Der Schnee im Schwarzwald, die Loipen vor der Tür, optimale Trainingsbedingungen und professionelle Betreuung – wer für und mit dem Sport lebt, träumt davon und übersieht leicht die Begleitumstände solcher Annehmlichkeiten: Wäsche waschen, kochen, einkaufen. Das Leben in einer Sportler-WG und die Mehrfachbelastung aus Para-Leistungssport und Schule „das war anfangs keine einfache Zeit,“ räumt Linn Kazmaier ein. „Ich musste mich ganz neu organisieren, und ich hatte oft Heimweh“.

Das Heimweh hat sie längst abgestreift, auch wenn sie gerne zurückkehrt auf ihre alten Trainingsstrecken im Lenninger Tal. Dabei hätte sie mit ihrem Sport, der ihr soviel bedeutet, der ihr Freiheit und Selbstvertrauen schenkt, voriges Jahr um ein Haar gebrochen. Der große Traum, im Sommer bei den Paralympics in Paris dabei zu sein, überstieg buchstäblich ihre Kräfte. Auf den letzten Biathlon-Weltcup im Winter 2023 in den USA hatte sie verzichtet, um früher ins sommerliche Bahntraining über die 1500 Meter einsteigen zu können. Nach wenigen Wochen hat ihr Körper gestreikt. Müdigkeit, Leistungsabfall, Antriebslosigkeit – „für einen Moment habe ich mit dem Gedanken gespielt, ganz aufzuhören“, sagt sie.
Sie folgte dem Rat ihrer Trainer. Die Mission Paris war gescheitert. Dafür kam der Spaß zurück. Begraben hat sie ihren Traum noch nicht. Mit 18 Jahren bleibt viel Zeit. Die Sommer-Paralympics 2028 in Los Angeles sind altersmäßig ebenso in Reichweite wie vier Jahre später die Spiele im australischen Brisbane. Bis dahin muss sie sich entscheiden und auf ihren Körper hören. Sommertraining ab Mai bedeutet für paralympische Wintersportler Grundlagenarbeit. Vereinfacht gesagt: Große Umfänge, geringere Intensität. Tempoläufe, Schnellkrafttraining als Vorbereitung auf große Wettkämpfe im Sommer passen da nicht in den Plan, von der Gesamtbelastung ganz zu schweigen.
Ende November geht es für sie und das deutsche Team nun erst einmal zum Schneetraining in die schweizer Alpen. Als letzte Vorbereitung auf den Weltcupauftakt im Dezember im finnischen Vuokatti. Der Saisonhöhepunkt wartet dann im Februar mit den beiden Para-Weltmeisterschaften im Biathlon und im Langlauf. Dabei müsste es wohl mit dem Teufel zugehen, spränge nicht die eine oder andere Medaille für sie dabei heraus.
Markenbotschafterin für Wohnen
Die Wohnbaugenossenschaften in Baden-Württemberg unterstützen Linn Kazmaier in ihrem Sport als Markenbotschafterin. In den Räumen der „Kreisbau“ in Kirchheim unterzeichnete die 18-Jährige aus Oberlenningen diese Woche den Vertrag. Beide Seiten stünden für Regionalität und Leistung begründete Bernd Weiler, Vorstandssprecher der Kreisbaugenossenschaft Kirchheim-Plochingen (Bildmitte, mit dem baden-württembergischen Vorstandsvorsitzenden Jörg Schenkluhn) die Entscheidung. „Linn steht für unsere Werte und hat als Para-Wintersportlerin schon vielfach gezeigt, was in ihr steckt“.
Als Mitbewohnerin einer Schüler-WG in Freiburg hat Linn Kazmaier zwar ein Dach über dem Kopf, die Wohnungsnot in der badischen Studentenstadt ist dennoch alllgegenwärtig. Für die Unterstützung ist sie dankbar. „Im Parasport tut man sich grundsätzlich schwer, an Sponsoren zu kommen“, sagt sie. bk