Kirchheim. Etwa 35 000 Brasilianer und Brasilianerinnen leben derzeit in Deutschland, und etwa genau so viele dürften am Dienstag Abend erwartungsfroh die WM-Übertragung ihrer heiß geliebten Seleção gegen Alemanha verfolgt haben. Als das Duell der beiden Fußball-Großmächte auf drastische Weise entschieden war, herrschte bei den Anhängern der Mannschaft von Weltmeister-Trainer Luiz Felipe Scolari das blanke Entsetzen vor. Bei Tiago Santos-Araujo (31), dem in Kirchheim lebenden TG-Fußballer mit VfL-Vergangenheit, war die Befindlichkeit kein Jota anders. Auch er verstand die Fußballwelt nicht mehr.
„Das war der schlimmste Tag in meinem Leben“, beurteilte der Brasilianer den 8. Juli 2014, „nach dieser 1:7-Niederlage war ich enttäuscht wie nie“. Zusammen mit seiner Ehefrau und der Familie seines Arbeitgebers hatte sich Santos-Araujo in gemütlicher Runde die Partie im Fernsehen angeschaut – und miterleben müssen, wie seine Nationalhelden in Belo Horizonte („200 Kilometer nördlich davon bin ich aufgewachsen“) von entfesselt aufspielenden Deutschen förmlich auseinander genommen wurden. Hinterher saß der Stachel des WM-Ausscheidens seiner Brasilianer tief, tiefer als jener, den ihnen die Franzosen im WM-Endspiel 1998 in Paris bei der 0:3-Pleite beigebracht hatten. Fair gratulierte Santos-Araujos der deutschen Nationalmannschaft zu einer reifen Vorstellung („auch mit Neymar und Thiago Silva hätten wir dieses Spiel wohl verloren“), sparte aber auch nicht mit Kritik am schwachen brasilianischen Spiel. „Es war überhaupt kein Aufbäumen da. Nach dem 0:2 hat sich unsere Mannschaft völlig aufgegeben.“
Jürgen Wolters (69) sah das ähnlich. Der Kirchheimer, in den 1980er-Jahren und Anfang der 1990er-Jahre sportlich ein erfolgreicher VfL- und WFV-Funktionär, ehe ein Steuerdelikt ihn alle Ämter kostete und den VfL in eine Schuldenkrise warf, wunderte sich bei der TV-Übertragung daheim ebenfalls über die vielen brasilianischen Fehler („die Spieler standen viel zu weit von ihren Gegnern weg“). Positiv überrascht war der Fußball-Kenner von der deutschen Spielweise, die statt vieler unproduktiver Rück- und Querpässe wie in Spielen zuvor erstmals wieder durch schnelle, gefährliche Offensiv-Kombinationen mit einer echten Spitze anstatt falscher Neun geprägt gewesen sei. Für Wolters war das die Art Fußball, die Deutschland Erfolg verspricht – erst recht im Finale am Sonntag. Wolters: „Ins Halbfinale hat sich die Mannschaft durchgemogelt, aber jetzt wird sie stark.“
Klaus Schlütter (73) war vom deutschen Spiel beim 7:1 hellauf begeistert. Von zehn Weltmeisterschaften hat der Teckboten-Mitarbeiter mit Bildzeitungs-Vergangenheit in seinen Berufsjahren als Vor-Ort-Sportredakteur berichtet, aber solch ein Halbfinal-Spektakel wie in Belo Horizone noch nie erlebt. „Ich war perplex“, beschrieb Schlütter seine Reaktion beim Zuschauen daheim vorm Fernseher, „weil es in der ganzen WM-Geschichte kein vergleichbares Spiel gab.“ Wie sich die Brasilianer von den Deutschen derart abschlachten lassen konnten, war ihm auch am Tag danach noch unerklärlich. „Vielleicht war der Erwartungsdruck auf die Spieler beim Turnier im eigenen Land viel zu groß“, vermutete er. Gespannt ist WM-Dauergucker Schlütter („bis auf Japan gegen die Elfenbeinküste habe ich alle Spiele angeschaut“), in welcher Verfassung sich die Brasilianer im kleinen Finale am Samstag präsentieren werden – und ob die Löw-Truppe im Endspiel tags später die nächste Topleistung folgen lassen kann.
Was die Mannschaft des WM-Gastgebers betrifft, plädiert der Journalist nach „Brasiliens größter Fußball-Schande“ zukünftig für einen totalen Neuaufbau. Tiago Santos-Araujo, Kirchheims wohl bekanntester Brasilianer, sieht nach der Schmach auch keine andere Vorgehensweise, soll der Ruf des Rekordweltmeisters nicht weiter leiden. „Was unsere Nationalmannschaft braucht, sind ein neuer Trainer, neue Spieler und ein neues Jugendkonzept. Jahrelang hat hat man vom Ruhm früherer Weltmeisterschaftserfolge gelebt. Doch diese Zeiten sind spätestens nach der 1:7-Niederlage gegen Deutschland vorbei.“