London. Seinen Kirchheimer Olympia-Nachbarn hat Tobias Unger schon getroffen. Mountainbiker Manuel Fumic, der am Sonntag nach einer Medaille greifen will, und er sind sich am Londoner Flughafen eher zufällig über den Weg gelaufen. Ein von Fumic auf die Schnelle gemachtes Foto der beiden ziert bereits die Facebook-Seite des Teckboten. Abgesehen davon fällt Ungers erstes Zwischenfazit nach der Ankunft im olympischen Dorf knapp, aber positiv aus. „Hier ist es echt super und das Training läuft auch.“ Richtig ernst wird es für Unger und seine Staffelkollegen Julian Reus, Alexander Kosenkow und Lukas Jakubczyk am Freitagabend um 21.55 Uhr deutscher Zeit, wenn es ums Ticket fürs Finale am Samstag (22 Uhr) geht – aber was kann das DLV-Quartett in London reißen?
Einer, der nicht nur die Sprintszene, sondern auch Tobias Unger bestens kennt, ist Marc Kochan. Der 33-Jährige aus Kirchheim war jahrelang Trainingskollege des „Schwabenpfeils“ und gehörte Anfang des Jahrtausends selbst zur deutschen Sprintspitze. Der DLV-Staffel traut er, der für seinen Arbeitgeber Nike momentan in London live dabei ist, einiges zu. „Der Finaleinzug muss das Minimalziel sein. Mit ein bisschen Glück ist Bronze drin. Wenn sie solide laufen, Platz fünf.“ Ein solider Lauf sollte laut Kochan trotz vorhergesagtem Schmuddelwetter möglich sein. „Die Bahn hier ist schnell, das hat man ja schon gesehen.“ Ob eine Wiederholung der deutschen Rekordzeit von Weinheim (38,02) möglich ist, kann jedoch auch er nicht beantworten. „Das war unter optimalen Bedingungen. Aber selbst, wenn man davon was abzieht, sollten die Jungs stark genug für das Finale sein.“
Ähnlich sieht‘s Ungers aktueller Trainingskollege und bester Freund, Marius Broening. „Wenn die Jungs eine Zeit um 38,20 Sekunden anbieten können, müssten sie im Finale vorne mit dabei sein“, glaubt er, der so gerne selbst dabei gewesen wäre. Nach einer verkorksten und von Verletzungen geprägten Saison verpasste der 28-jährige Tübinger, der in Kirchheim trainiert, das Ticket nach London jedoch. „Da hatte ich lange dran zu knabbern“, gesteht Broening, der seinen Nationalmannschaftskollegen aber dennoch fest die Daumen drückt. „Ich wünsche ihnen den maximalen Erfolg. Nach der Zeit von Weinheim sind die alle richtig motiviert und träumen von einer Überraschung“, glaubt er, der täglich mit seinem Spezi Tobias Unger in Kontakt steht und bei einem Finaleinzug vielleicht noch spontan nach London aufbrechen will. „Wenn ich kurzfristig an Tickets komme, fliege ich hin und feuere die Jungs an.“
Broenings und Ungers Trainer schätzt die Aussichten der DLV-Staffel ebenfalls positiv ein. „Eine Zeit um 38,40 Sekunden ist allemal drin“, meint Micky Corucle, der Vorlauf und mögliches Finale am heimischen Großbildfernseher in Köngen verfolgen wird – Sprint-Heimtrainer sind traditionell nicht bei großen Wettkämpfen dabei, es sei denn, sie reisen auf eigene Kosten. So muss Corucle, der Unger seit dem Wettkampf in Weinheim nicht mehr gesehen hat, seinen Schützling telefonisch mit Trainingstipps versorgen. „Wir telefonieren täglich“, sagt er, der das DLV-Quartett vor allem bei den Wechseln im Vorteil gegenüber anderer Staffeln wähnt, die ausschließlich auf ihre schnellen Einzelläufer setzen. „Die deutsche Staffel hat eine sensationelle Effektivität bei den Wechseln“, weiß Corucle, der sich trotzdem keinen (Final-)Tipp anmaßt. „Da kann immer so viel passieren. Wenn alles normal läuft, kommen sie aber ins Finale.“
Sollten Unger & Co. das schaffen, muss Martin Turetschek morgen Abend Überstunden machen. Turetschek ist Referent für Unternehmenskommunikation bei der Kreissparkasse Esslingen, Ungers Hauptsponsor. In dieser Funktion versorgt er die rund 1 600 Mitarbeiter via Intranet während der Olympiatage regelmäßig mit den aktuellsten Informationen zum zukünftigen Kollegen – Tobias Unger soll im Herbst als Trainee bei der Kreissparkasse anfangen. „Wir drücken ihm hier alle ganz fest die Daumen“, sagt Turetschek, der in seinen firmeninternen Mails Aufklärungsarbeit für sport(un)interessierte Kollegen betreibt. „Uns ist schon wichtig, dass die Mitarbeiter Bescheid wissen, was da momentan in London passiert“, sagt er, der sich als Staffelkenner entpuppt: „Jamaika und die USA sind Abonnenten auf Gold und Silber, danach kommt lange nichts“, weiß Turetschek. „Zwischen Platz drei und fünf wäre für die Deutschen eine klasse Leistung.“
Ähnlich sieht‘s Hans Krieg, Sportwart des württembergischen Leichtathletikverbands aus Beuren. „Realistisch ist Platz fünf, sechs oder sieben, aber in der Staffel kann viel passieren.“ Der 59-Jährige weiß, dass bei Groß-Events wie Olympia Nuancen über Triumph oder Tragödie entscheiden können. Darum misst er auch dem deutschen Rekord, den die Staffel vor zwei Wochen in Weinheim aufgestellt hat, im Zusammenhang mit den Rennen in London keine allzu große Bedeutung bei. „Jetzt kommt es nicht mehr auf die Zeit, sondern auf die Tagesform an.“ Da dürften auch äußere Einflüsse wie Wind oder Regen nicht als Erklärung für (schlechte) Ergebnisse herhalten. „Die anderen Staffeln haben das gleiche Wetter“, so Krieg, der auch im Bundesausschuss Leistungssport beim DLV sitzt und in dieser Funktion zum prominenten Daumendrücker wird. „Man hofft im Stillen“, sagt er, „aber eine Medaille wäre trotzdem eine mittlere Sensation.“