Teddington. Als Kind war das alljährliche Radrennen rund um den Alleenring ein absolutes Muss und ein Höhepunkt des Sommers. Blitzschnelle Athleten, die in Sekundenschnelle an einem vorbeisausten, wir Kinder in der ersten Reihe stehend mit einer Bratwurst in der einen Hand und einer Cola in der anderen, dazu der besondere Nervenkitzel, den Alleenring an einer nicht dafür vorgesehenen Stelle zu überqueren. Diesen Sommer nun werde ich nach langer Zeit wieder ein Radrennen als Zuschauerin miterleben können. Diesmal ist nicht Kirchheims Innenstadt der Schauplatz, sondern London, und das Rennen ist wohl das Größte, was man als Sportler im Laufe seiner Karriere erleben kann.
Das Olympische Radrennen wie auch das Zeitfahren führen direkt an meiner Haustür vorbei. Vom Fernsehsessel zum Live-Geschehen sind es nicht mehr als ein paar Schritte. Limonaden-Verkauf in meiner Einfahrt wäre eine Option, über die sich zumindest nachdenken ließe.
Sieben Jahre haben die Vorbereitungen auf das Spektakel Olympiade in London gedauert. Der Osten der Stadt, das sogenannte „East End“, in dem sich das neu gebaute Olympiastadion und das olympische Dorf befinden, hat die größten Veränderungen gesehen. Aber auch draußen in den zahlreichen Vororten Londons hat das Großereignis deutliche Spuren hinterlassen. In meinem Heimatort Teddington, ein zentraler Punkt auf der Radrennstrecke, wurden emsig Gehwege neu gepflastert, der Bahnhof komplett renoviert und selbstverständlich die Straßen neu geteert. Schließlich sollen Wiggins und Kollegen ein schlaglochfreies Rollfeld vorfinden.
Für den beschaulichen Vorort im Londoner Südwesten ist die Olympiade die einmalige Gelegenheit, sich der Welt von seiner besten Seite zu präsentieren. Teddington liegt direkt am Bushy Park, einem wichtigen Streckenabschnitt des Rennens, der berühmte Hampton Court Palast ist gleichzeitig das Ziel beim Zeitfahren am Mittwoch und nur einen Katzensprung entfernt. Klar, dass man sich hier auf mehrere Tausend Besucher einstellt. Die geschäftstüchtige Teddington Business Community (vergleichbar mit dem Kirchheimer City Ring) setzt auf Interaktivität und organisiert einen Trimm-dich-Pfad durch den gesamten Ort, auf dem sich nach Rennschluss Jung und Alt bei Fußball, Zumba oder Yoga vergnügen kann. Aber Olympia bietet nicht nur Marketingpotenzial für lokale Geschäftsleute. Auch sozial engagierte Vereine nutzen die Chance. In Teddington wird das integrative Musik-Projekt Orquesta Sin Fronteras die Stationen auf dem Fitness-Pfad mit Musik begleiten.
Weil auch Zuschauersport hungrig und durstig macht, bereiten sich die sogenannten „watering holes“, die Pubs und Bars, auf den Ansturm vor. Dermot Mc Cann, Pächter des schmucken Adelaide Pubs direkt an der Rennstrecke, sieht dem Tag X als Einziger gelassen entgegen. „Wir sind ja schließlich kein Sport-Pub, sondern ein traditionelles Pub, das Wert auf gute Küche und gepflegte Getränke legt“, sagt er. Morgens um halb zehn, wenn die Radler hier vorbeizischen, will er draußen ganz kontinental Croissants und Kaffee anbieten. „Der Brandy geht an diesem Tag auf Kosten des Hauses“, sagt Mc Cann und schmunzelt: „Und das, obwohl meine Alkohollizenz erst ab 10 Uhr gilt. Aber das kümmert an diesem Tag wohl keinen.“ Der Ire ist ein Pub Landlord der alten Schule, der seine Gäste noch mit Vornamen und per Handschlag begrüßt.
Dass das Adelaide auf seine Weise Einfluss auf die Spiele haben wird, davon ist Mc Cann überzeugt. Im Haus nebenan wohnen die australischen Langstreckenläufer. Die Großstadt-Oase Teddington ist dank des Bushy Parks ein beliebter Trainingsort für Athleten aus aller Welt. Hier trainieren die kenianischen Wunderläufer und selbst Superstar Usain Bolt. Den hat Mc Cann zwar noch nicht bewirtet, doch die australischen Nachbarn sind oft zu Gast im Adelaide. Der süßen Nachspeise namens „Sticky Toffey Pudding“ mit Vanillesoße schreibt der Hausherr leistungssteigernde Wirkung zu. Olympia hat noch nicht begonnen, da freut sich Mc Cann schon auf das nächste Highlight: 2016 in Brasilien wird sein Lieblingssport Golf endlich olympisch. „Ob ich‘s bis dahin ins irische Team schaffen werde, muss man sehen“, meint er mit einem Lachen.
Ich werde bei Olympia übrigens auch dabei sein: mit der Kamera. Ich werde einen Dokumentarfilm über das olympische Geschehen im ansonsten so beschaulichen Teddington drehen. Nun muss nur noch das berühmt-berüchtigte britische Wetter mitspielen, das dank eines aus der Bahn geratenen Jet Streams seinem Ruf bisher leider gerecht wird. Selbst ernannte Wetterpropheten hier malen schon schwarz: Olympische Spiele mit Regen, Sturm und Hagel wären zwar very british, aber international wohl kein Verkaufsschlager. Die erlösende Nachricht ging diese Woche durch die Medien: Der Jet Stream sei inzwischen auf bestem Weg dorthin, wo er hingehört: in den Norden. Pünktlich zur Eröffnungsfeier morgen soll die Sonne scheinen. Also: Let the games begin!