Egal ob Handspiel, Video-Assistent oder die erstmals bei der WM in Katar eingesetzte halbautomatische Abseitserkennung – der Fußball sorgt für jede Menge Gesprächsstoff. Um die beliebteste Sportart der Welt ständig an die neusten Gegebenheiten anzupassen, diskutiert das International Football Association Board (IFAB) derzeit weitere grundlegende Reformen.
Das Gremium galt einst als stockkonservativ, hat in jüngster Vergangenheit aber vergleichsweise zügig erst die Torlinientechnik und dann den Videobeweis sowie die Erhöhung von drei auf fünf Spielerwechsel beschlossen.
Mehr Freiheiten beim Einwurf
Der größte Anpassungsbedarf besteht laut den IFAB-Mitgliedern momentan beim Einwurf. Denn dadurch, dass es im pressingbetonten Fußball angesichts der kurzen Wurfdistanz oft schwierig ist, einen freien Anspielpartner zu finden, ist der Einwurf – der eigentlich einen Spielvorteil bringen soll – mittlerweile sogar eher risikobehaftet. Patrick Kölle, Spielertrainer von Bezirksligist TV Neidlingen, kennt diese Problematik: „Bei uns ist das ein echtes Thema, wir sind nach eigenem Einwurf fast nie in Ballbesitz.“
Daher wurden gleich mehrere Szenarien entwickelt, die mehr Freiheiten bieten könnten. Die Variante, die wohl am wenigsten Anpassungszeit benötigen würde, wäre eine einarmige Ausführung des Einwurfs analog zum gewöhnlichen Torwartabwurf. Für Ingo Schäfer, Trainer des A-Ligisten TSV Wernau, eine gute Idee: „Roberto Carlos hat früher auch immer mit einer Hand geworfen und die zweite Hand quasi nur als Stütze genommen. Dadurch kam er viel weiter und konnte ganz neue Spielsituationen kreieren.“
Den Fußball deutlich stärker verändern würde hingegen der Gedanke des „Kick-in“, bei der der Einwurf ähnlich zum Freistoß mit dem Fuß von der Seitenauslinie zurück ins Feld geschlagen wird. Was vermutlich neue taktische Möglichkeiten ermöglichen würde, wäre sowohl für Kölle als auch für Schäfer „regeltechnisch ein viel zu großer Eingriff in das Spiel“.
Um das häufig genutzte Zeitspiel bei Einwürfen zu unterbinden, wurde außerdem ein Konzept entwickelt, das den Einwerfenden bestimmt. So könnte bald der Spieler für den Einwurf verantwortlich sein, der dem Punkt an der Seitenlinie, an dem der Ball das Feld verlassen hat, am nächsten steht. Diese Maßnahme soll verhindern, dass der „Einwurfspezialist“ erst vom anderen Spielfeldende herangetrabt kommt und dadurch unnötig viel Zeit von der Uhr nimmt. Diskussionen wären bei diesem Verfahren aber vorprogrammiert, wenn nicht gleichzeitig auch noch der Video-Assistent angewendet werden soll, welcher Spieler denn jetzt wirklich der nächste zur Spielfeldbegrenzung war. Vor allem eine Umsetzung im Amateurbereich würde große Hürden mit sich bringen.
Apropos Spielzeit: Schon seit längerem wird über eine Netto-Spieldauer diskutiert, um das Zeitspiel auf einen Schlag völlig zu unterbinden. Ob die Netto-Spielzeit zweimal 35 oder zweimal 40 Minuten betragen könnte, um die gesamte Spiellänge nicht völlig ausarten zu lassen, dazu gibt es aktuell noch keine klare Tendenz. „Hier wäre ich ein großer Befürworter, das Zeitspiel geht mir nämlich tierisch auf den Keks“, zeigt TVN-Spielertrainer Patrick Kölle klare Kante.
Immerhin: Wie deutlich bei der WM in Katar zu erkennen war, werden die Unparteiischen inzwischen dazu angehalten, konsequentere Nachspielzeiten anzuwenden – auch wenn es so zu teilweise noch ungewohnten Szenen mit über 20 Minuten Nachspielzeit kommt.
Schnellere Aktionen bei Ecken
Weil der moderne Fußball immer schneller wird, sollen gemäß IFAB-Vorstellungen auch Standardsituationen das Spielgeschehen nicht mehr verlangsamen – zumindest wenn das ausführende Team dies als taktisches Mittel einsetzen möchte. Demnach könnte bei Eckbällen eine wiederholte Ballberührung erlaubt werden, so dass der Spieler mit dem Ball entweder direkt ins Feld dribbeln oder sich die Kugel per „Selbstpass“ zurecht legen kann, um den Winkel für eine Flanke in den Strafraum zu verbessern. Selbige Überlegung gibt es auch für die Freistoßausführung. Da jedoch sowohl Eckball als auch Freistoß Spielsituationen mit hohem traditionellen Charakter sind, scheinen einschneidende Neuerung jedoch eher abwegig. Das trifft ebenfalls auf den Abstoß zu, der seit 2019 vom ausführenden Team nun aber auch innerhalb des Strafraums angenommen werden darf.
Zeitstrafe als Zwischenstufe
Was bereits in einigen Jugendbereichen erfolgreich angewandt wird, stößt auch im Aktivenbereich auf immer mehr Befürworter: die Zeitstrafe. Beispielsweise könnte bei unsportlichem Verhalten eine Fünf-Minuten-Zeitstrafe greifen. Eine zehnminütige Zeitstrafe könnte derweil als Pendant zur gelb-roten Karte zum Einsatz kommen – sozusagen als neue Stufe zwischen letztmöglicher Verwarnung und endgültigem Verlassen des Platzes. Wernau-Trainer Ingo Schäfer hält davon jedoch nichts „Wenn ein Foul einen Platzverweis rechtfertigt, sollte der Spieler runter müssen und nicht nach einer kurzen Denkpause weiter machen dürfen.“
Gleicher Schütze vom Punkt
Auch hinsichtlich des Strafstoßes könnte eine Neuerung für mehr Fairness sorgen. Sollte künftig ein Elfmeter wiederholt werden, , müsste der gleiche Schütze – unabhängig davon, ob er den Strafstoß verwandelt hat oder nicht – nochmals ran. Bisher gibt es die Gelegenheit, den Elfmeterschützen nochmals zu ändern.
Eine Regelung, bei der sich die lokalen Trainer einig waren, könnte in der Tat zeitnah Anwendung finden: Während bei den Profis inzwischen coronaunabhängig das Wechselkontingent von drei auf fünf erhöht wurde, sind im Amateurbereich nach wie vor nur vier Wechsel erlaubt. „Das sollte endlich mal über alle Länderverbände hinweg angepasst werden“, finden Kölle, Schäfer und Strähle.
Her mit der Netto-Spielzeit!
Ein Kommentar von Max Pradler
Was nervt neutrale Zuschauer beim Fußball am meisten? Schauspielerei und Zeitspiel. Dabei wäre gerade Letzteres so einfach durch die Einführung der Nettospielzeit zu eliminieren, was den Sport nicht nur attraktiver, sondern auch transparenter und fairer machen würde. Zumal ein sportlicher Wettbewerb doch von Grund auf ein klar vorher definiertes Ziel an Punkten oder Zeit braucht, das erreicht werden muss: Wird um eine Mindestzahl an Punkten gespielt wie Tennis, weiß jeder ganz genau, was zu tun ist. Gleiches gilt für die Mindestzeit.
Im Fußball allerdings besteht zu keinem Zeitpunkt Gewissheit darüber, wann das Spiel tatsächlich abgepfiffen wird, beziehungsweise wie lange ein Team überhaupt noch Zeit hat, das Spiel zu gewinnen. Solch eine elementare Entscheidung wird einfach in die Hände der Schiedsrichter gelegt – ein absurder Gedanke. Denn es beruht nicht gerade auf Fairness, dass der oder die Unparteiische das Fußballspiel mit einer individuellen Willkür verlängern darf – oder eben nicht. Zumal es sich um eine Sportart handelt, in der der Ball mal 42 Minuten, mal 53 Minuten oder mal 60 Minuten im Spiel ist – unbegreiflich.
Erst kürzlich hat die Plattform „Football Observatory“ eine Studie zur Wechselwirkung zwischen tatsächlichen Unterbrechungen während einer Partie und der gegebenen Nachspielzeit veröffentlicht. Spoiler: Es gibt keine. Nachspielzeiten werden offenbar rein nach dem subjektiven (und gemäß der Studie meist falschen) Empfinden des Schiedsrichters vergeben. Die Spieler wiederum wissen genau, dass sich Zeitspiel lohnt, weil das in den meisten Fällen eben nicht drangehängt wird.
Profitiert ein Team über eine Saison hinweg also von durchschnittlich längerer Nachspielzeit, hatte es im Vergleich zur Konkurrenz unterm Strich auch deutlich mehr Spielzeit zur Verfügung, um Tore zu erzielen. Nicht selten kommt es vor, dass am Ende einer Spielzeit das Torverhältnis über Freud oder Leid entscheidet. Umso ärgerlicher und ungerechter, wenn beide Mannschaften schlichtweg nicht die gleiche Zeit gehabt hätten, um die gleiche Anzahl an Toren zu erzielen.
Im Handball, Basketball, Eishockey, Football und vielen andere Sportarten besteht diese Problematik erst gar nicht. Apropos Handball: Gerade hier könnten sich so einige Sportarten eine Scheibe abschneiden. Wie sehr würde beispielsweise die Regel, dass der Ball nach einem Freistoßpfiff für den Gegner nicht mehr berührt werden darf, den Fußball zum Positiven beeinflussen. Es gäbe auf einen Schlag kein Wegschießen, Wegwerfen oder Wegtragen. Berührt der Spieler den Ball eben doch – Gelbe Karte. Macht er es ein zweites Mal – Gelb-Rot – konsequent. Wie schnell die Fußballer sich wohl das Zeitspiel abgewöhnen würden.